Ein Samstagnachmittag im „Familienkaffee“ Frankfurt
„Ich zünde meine Kerze für Linus an“, nuschelt Niko in sich hinein. Dann gibt er das Feuerzeug an seinen Vater und knabbert weiter an seinem Keks, während er die Strickjacke seiner Mutter Linda über seinen Kopf zieht.
Neben Niko und seinen Eltern sitzen noch vier andere Familien an dem voll gedeckten Tisch. Es ist ganz still, bis der letzte seine Kerze angezündet hat und die Trauerbegleiterin wieder das Wort ergreift. Ein Moment der Andacht und der tiefen Trauer. Jeder ist bei seinem Engel. Niko denkt an Linus.
Ein Jahr ist es nun her, dass Linus seinen Zwillingsbruder Niko und seine Eltern Linda und Christian hinterließ. Linus hatte Krebs, genauer gesagt einen bösartigen Hirntumor, der, wie man ihm erklärte, viele neue Häuser in seinem Kopf gebaut hat.
Die Prognose war von Anfang an schlecht. Es war schnell klar, dass es sich nur noch um Monate handeln wird. „Linus wusste sofort, dass er sterben wird, auch wenn er noch so klein war“, berichtet seine Mutter über den damals Dreijährigen. „Er hat sich verändert, nicht nur äußerlich.“
Von der Diagnose an waren es noch 11 Wochen. Auch wenn sich Niko fest vorgenommen hat, seinem Bruder ein letztes Bild zu malen, hat er sich nicht getraut. „Vielleicht gefällt es ihm nicht?“, war seine Ausrede.
„Linus ist immer bei uns. Wenn ich Niko ins Bett bringe, schaue ich auch heute noch instinktiv in das leere Nachbarbett“, so der Vater, während er seine Hand auf Lindas legt.
Jeder hat ein Stück Kuchen auf seinem Teller liegen, das er sich bei der Anmeldung zu dem monatlich stattfindenden Familienkaffee wünschen konnte. Bezahlen muss man es nicht, denn das Kaffee ist eine Organisation des Elternvereins Hilfe für krebskranke Kinder Frankfurt e.V. und wird ebenfalls von ihm finanziert.
Die kleine Mila hat ihre große Schwester gar nicht mehr erlebt. Trotzdem spürt sie mit ihren zwei Jahren, dass hier eine besondere Atmosphäre herrscht.
Nachdem der Kuchen aufgegessen ist, bewegen sich die Kleinsten, darunter Mila und Niko, mit einer Betreuerin in den Spielraum. Die größeren Kinder gehen in Begleitung einer Trauerbegleiterin in einen Wintergarten. Heute spielen sie Spiele, bemalen Schieferherzen für das Grab ihrer Geschwister und reden über ihre Gefühle wie Wut, Trauer aber auch Freude. „Auch für Kinder ist es eine wertvolle Erfahrung, mit anderen zusammen zu sein, die Ähnliches erlebt haben. Wir gehen altersgerecht auf ihre Trauer ein. Sie können erzählen, spielen und kreativ sein“, berichtet die Trauerbegleiterin Manuela, deren Kind selbst vor einigen Jahren an Krebs erkrankte.
Währenddessen spielen die Kleinsten im Garten, rutschen und haben die Möglichkeit, sich von dieser trauernden Atmosphäre zu lösen. Das ist wichtig, denn auch im Alltag zuhause sind Gefühle von Trauer und Angst ständig präsent.
Neben dem freien Spielen gibt es auch bei den Kleinsten die Möglichkeit, etwas zu malen oder eine Leinwand mit Farben und Handabdrücken zu versehen.
Solche festen Programmpunkte sind besonders gut, da die Kinder beschäftigt sind und die Eltern für eine Weile Ruhe haben. Dann beginnen in Begleitung der zweiten Trauerbegleiterin Cordula Gespräche über Gefühle, Erlebnisse und Gedanken. Es wird ein Raum für Tränen geschaffen, der gerne genutzt wird, denn im Alltag ist dafür kaum Zeit. Die brennende Kerze vermittelt den Eltern das Gefühl, dass ihre verstorbenen Kinder bei ihnen sind. Einige Eltern sind leiser, hören lieber zu und sind ganz bei sich und ihren Kindern. Andere sind aktiver, stellen Fragen und versuchen Blockaden und Gedanken zu äußern. Auch Monologe finden statt, denen die anderen ohne Unterbrechung zuhören. Es ist ein Rahmen, der vieles zulässt.
Nach eineinhalb Stunden sind die Kinder mit ihrem Programm fertig und auch bei der Elterngruppe scheint vielleicht nicht alles gesagt, aber für diesen Moment alles ausgeschöpft zu sein.
Nachdem die letzten Tränen getrocknet sind, gehen auch die Eltern wieder zu ihren Kindern und sehen sich die Resultate ihrer Aktivitäten an. Die Atmosphäre verändert sich und jeder wirkt in einer Hinsicht erleichterter. Der Samstagnachmittag in Frankfurt hat Raum und Zeit gegeben für jemanden, der nicht mehr da ist und trotzdem noch so viele Fragen, Gefühle und auch Tätigkeiten fordert. „Ich habe das Gefühl, einen Ausflug unternommen zu haben, mit meinem Mann, mit Niko aber auch mit Linus“, so Linda.
Wenig später zeigt Niko ihr sein Bild. Blumen, ein Haus, drei Menschen, die sich die Hände geben und eine Wolke, auf der ein freundliches Gesicht ruht. „Für Linus“, sagt Niko, legt das Blatt auf den Tisch und rennt wieder zu den anderen Kindern in den Garten. Linda blickt es lange an und flüstert: „Das würde Linus sicherlich gefallen.“ Dann packen alle ihre Taschen und trommeln die Kinder zusammen. Nach vielen herzlichen Umarmungen folgt ein wichtiges Ritual: Jeder Teilnehmer geht zu dem abgedeckten Tisch, nimmt seine Kerze ein letztes Mal in die Hand und pustet sie dann schließlich sachte aus. Ein Moment der Andacht und der Stille.
15 Jahre