Was auf dem Boden liegt

 

„Und dann sagt Fritzchen: Oma, da liegt ein Hunderter auf dem Boden. Darf ich den aufheben? Aber Fritzchens Oma sagt:“ „Komm jetzt endlich!“ „Falsch, Fritzchens Oma sagt: Nein, was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben. Und dann gehen sie weiter.“ „DU gehst jetzt auch weiter! Und zwar nach Hause!“ Fiona trat von einem Fuß auf den anderen und schaute zu den dunklen Wolken am Horizont. Wenn es jetzt auch noch anfing zu regnen… „Plötzlich rutscht die Oma auf einer Bananenschale aus.“ Ben stellte sich taub, wie immer. Wenn er doch wenigstens gleichzeitig laufen und reden könnte. Sie schob ihren Ärmel nach oben, um einen Blick auf ihre Uhr zu werfen. Nur noch zwei Stunden. „Da sagt sie zu Fritzchen: Fritzchen, hilf mir hoch! Aber Fritzchen sagt zur Oma: Tut mir leid. Was auf dem Boden liegt“ „…darf man nicht aufheben. Haha, wie lustig. Komm, Ben, wir müssen weiter!“ Sie streckte die Hand aus. Er griff danach. Fünf Meter weiter blieb er wieder stehen. „Schau mal, Fiona.“ Er hockte sich hin. Das Gewicht seines Schulranzens zog ihn nach hinten. Er landete mit dem Hintern auf dem Boden. „Eine Ameisenstraße.“ „Ja, schön. Ben, ich will nach Hause. Ich muss Hausaufgaben machen und nachher bin ich mit meinen Freunden verabredet. Ich hab keine Zeit für Ameisenstraßen.“
 Sie zog ihn hoch und weiter, an dem Garten mit dem Teich und den Gartenzwergen vorbei, die er stundenlang anschauen konnte, und vorbei an dem Hoftor mit dem Schild „Vorsicht vor dem Tiger“. Ben liebte Schilder, seit er einigermaßen lesen konnte. Er brauchte noch ziemlich lang, um die Buchstaben zu entziffern. Jeden Nachmittag blieb er vor dem Schild stehen und las es laut vor. Als ob jemand die Wörter über Nacht austauschen würde. Er hatte Fiona gefragt, ob in so einem kleinen Garten überhaupt genug Platz für den Tiger sei und ob sie ihn schon einmal gesehen hätte.

 

Auch heute wollte Ben vor dem Schild stehen bleiben, aber Fiona zog ihn weiter. Es war Freitag und wie jeden Freitag arbeiteten ihre Mutter und Gregor länger und Fiona musste Ben von der Schule abholen. Fiona fand, dass Ben alleine nach Hause laufen könnte, aber ihre Mutter war da anderer Meinung. Also bemühte sich Fiona wie jeden Freitag, Ben möglichst schnell nach Hause zu bekommen und Ben machte es ihr wie jeden Freitag möglichst schwer.

 

„Er ist dein Halbbruder, sollte er nicht auch nur halb so nervig sein?“, hatte Florian mal gefragt. „Wir können ja tauschen.“, hatte Fiona gesagt. Florian hatte zwei große Schwestern, die nicht mehr zu Hause wohnten. Ben war sieben, zehn Jahre jünger als sie und hatte unerhört blonde Locken. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn für einen Engel. „Nee, lass mal.“ Florian hatte nur gegrinst. Er musste oft genug zuhören, wenn sie über Ben schimpfte.

 

Als sie an der Eisdiele vorbeikamen, warf Ben seiner Schwester einen sehnsüchtigen Blick zu. „Vergiss es.“ Sie ging schneller, freute sich schon, dass sie es an der Eisdiele vorbei geschafft hatten und… Zu früh gefreut. „Schau mal, Fiona. Was ich gefunden habe.“ Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie Ben die Hand nach etwas Rosanem  ausstreckte. „Ben, ist das etwa…?“ Er leckte sich die Finger ab. „Erdbeereis.“ Um die Kugel herum hatte sich eine rosa Pfütze gebildet. Eine Mücke schwamm darin. Ihr Flügel zappelte noch. „Igitt!“ Sie suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch, fand aber keins. Ben wischte die Hand an seiner Hose ab. Fiona tat, als hätte sie es nicht gesehen.

 

Ben fasste alles an, was er fand und er fand ständig etwas. Dinge, die Fiona nicht einmal wahrgenommen hätte, wenn sie darauf getreten wäre. Bonbonpapier, Münzen, ausgespuckte Kaugummis, ein halbes Schneckenhaus, zertretene Plastikeislöffel in allen Farben. Einmal hatte er eine noch halb volle Tüte Pommes gefunden. Sie hatte im Dreck gelegen, war zerknittert und vom Fett der Pommes durchweicht gewesen. Ben hatte die Pommes trotzdem gegessen. Dass seine Mutter stinksauer gewesen war, als sie ihn dabei erwischte, hatte nichts geholfen. Ben nahm weiterhin jede Gummibärchentüte mit, die er fand und streichelte jede noch so verwahrloste Katze.

 

„Kompromiss.“, Fiona ging neben Ben in die Hocke. „Ich trage deinen Ranzen. Dafür beeilst du dich ab jetzt.“ Sie hielt ihm die Hand hin. Ben überlegte. „Na gut.“ Er streckte die Hand aus, sie zog ihre weg. „Kein Zwischenstopp mehr. Verstanden?“ Er nickte und schlug ein.

 

Ben beeilte sich. Er versuchte es wenigstens und er blieb nicht stehen. Als sie in ihre Straße einbogen, schaute Fiona wieder auf die Uhr. Noch eineinhalb Stunden. Das konnte sie schaffen. Sie drehte sich zu Ben um, aber da war kein Ben. „Ben? Nee, oder?“ So viel zu: Das schaffte sie noch. Vielleicht war er nicht weit weg? Vielleicht kam er gleich um die Ecke? Vielleicht. Sie holte tief Luft. „BEN? KOMM SOFORT HER! BEN!“ Eine Frau blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Irgendwo bellte ein Hund. Kein Ben. Fiona stöhnte und rannte los.

 

Sie musste nicht weit rennen. Nur um die Ecke und dann etwa zehn Meter weiter. Ben hockte mal wieder am Boden. Sie blieb neben ihm stehen, keuchend. „Ben?... Was…soll das? Ich hab doch gesagt…“ „Er ist tot.“ „Was?“ „Er ist tot, oder?“ Ben stand auf und zeigte auf einen Haufen zerrupfter Federn. Der Schnabel des Vogels war offen. Was sollte sie sagen? „Ja.“ Bevor sie reagieren konnte, hatte Ben ihn aufgehoben. „Leg ihn wieder hin.“ „Nein. Wir begraben ihn.“ „Ben, du weißt doch: Was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben.“ „Bitte.“ „Nein!“ „Dann bleib ich hier.“ Was jetzt? „Na gut, aber ich fass den nicht an. Wir packen ihn in deinen Turnbeutel und du wäschst dir zu Hause die Hände. Und kein Wort zu Mama! Alles klar?“ Ben nickte und presste den Vogel vorsichtig an seine Brust.

 

Sie gähnte und legte den Kopf gegen das Fenster, spürte jedes Ruckeln, jede Unebenheit, über die die Bahn fuhr. „Müde?“, fragte Florian. Fiona nickte. „Wir sind bald da.“ Fast gleichzeitig ertönte die Frauenstimme, die Fiona nervig und Ben lustig fand. „Nächster Halt…“ Florian zog sie auf die Füße.

 

Die Bahn hielt. Sie stiegen aus und blieben stehen, als um sie herum alle anhielten. Hinter ihnen fuhr die Bahn weiter. Vor ihnen im Halbdunkeln standen zwei Männer. Oder waren es Jugendliche? Sie traten auf etwas ein, das am Boden lag, schrien wilde Beschimpfungen und fluchten, als sie die Menge bemerkten. „Verzieht euch! Haut ab, ihr Arschlöcher!“ Fiona spürte, wie Florians Finger ihre Hand umschlossen, hörte wie Anne neben ihr wimmerte, sah, wie Leonie und Max zwei Schritte rückwärts machten, wie immer mehr Menschen umdrehten, wegliefen, wegrannten und wie ein Junge sein Smartphone zog und zu filmen begann.

 

Sie konnte sich nicht bewegen. Sie schaute zu, wie die beiden Männer auf das Etwas am Boden eintraten. Noch einmal und noch einmal. Das Etwas am Boden zuckte und endlich begriff Fiona, was da lag. Wer da lag. Ein Mensch. Ein Junge. Nicht viel älter als sie. Eine Brille lag neben ihm am Boden. Zertreten. Sein Gesicht war verquollen und rot. Und da war Blut, viel Blut. Bei jedem Tritt krümmte sich sein Körper weniger, bis er schlaff am Boden lag, verdreht und leblos wie eine weggeworfene Puppe.

 

Die Männer ließen ihn liegen. Einer drehte sich noch einmal um. Dann hauten sie ab.

 

Niemand bewegte sich. Niemand rief einen Krankenwagen. Niemand ging zu dem Jungen.

 

„Was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben.“, hörte sie Ben sagen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie dachte an Bens Schätze. All die weggeschmissenen Eislöffel, Kaugummis, Bonbonpapiere, Schlüsselanhänger. Sie dachte an das Erdbeereis, das außer Ben niemand mehr wollte. An den toten Vogel. „Ich fass den nicht an.“, hatte sie gesagt. Ben hatte ihn hochgehoben, Ben hatte ihn begraben. Bei ihnen im Garten unter dem Apfelbaum. Wer außer ihm hätte das getan? Und nun lag da kein Vogel, sondern ein Mensch.

 

Was auf dem Boden liegt, darf man nicht aufheben. Falsch, Ben, dachte sie, falsch. Was auf dem Boden liegt, will niemand aufheben. Sie ließ Florians Hand los und ging zu dem Jungen.