Was ist fair?

Verschiedene Denkweisen

von

Jessica Neugebauer

 

Friedrich Müller ging in die Küche und nahm seine stündlichen Medikamente zu sich. Der 90-jährige Rentner lebte alleine in seiner 2 Zimmer Wohnung, in einem abgelegenen Ort  in der Nähe von Berlin. Seine Frau war schon fast vor einem Jahrzehnt in die Obhut Gottes gegangen und seine Kinder mochten keinen Kontakt mit ihm halten. Ehe Friedrich Müller die Tablette gegen seine Epilepsie einnahm, musste er wieder an die letzten Worte seiner beiden Kinder, Susanna und Frank, denken: „Wie kannst du nur so ein Unmensch sein, Vater?“, sagten sie mit empörten Gesichtern und wichen zurück, „ Warst du von allen guten Sinnen verlassen?!“ Seit jenem Vorfall vor ungefähr 5 Jahren sprachen die Kinder kein Wort mehr mit ihm. Wie ein Lebloser trank er mit leeren Augen die letzten Tropfen aus dem Glas, jedoch schien der gleichgültige, desinteressierte Eindruck zu täuschen. Innerlich kochte es nämlich schon durchgehend seit 1945 in dem alten Mann. Er konnte Tag täglich nur an diese eine Sache denken, bei der ihm jedes Mal die Galle hochging. Er war so sehr von Wut und Rache besessen, dass er auch unzählige Nächte deswegen nicht schlafen konnte. Der Grund für seine derartige Unzufriedenheit war sein Hass auf die Juden und all das, was das Deutsche Reich zum Fall brachte. Der ehemalige NS-Soldat diente mit seinem ganzen Herz „dem Führer“ und für ihn waren seine Worte, seine Taten, das größte Vorbild. Müller handelte, dachte und schlief immer bedenkend, was ihm gefallen würde. Er bekam sogar einmal eine persönliche Auszeichnung von ihm. Umso mehr fand er es unberechtigt, dass die Alliierten sich gegen die Deutschen geschlossen haben und die Unreinen somit entkommen waren. Sein Traum war eine reine Welt, eine starke Welt, eine deutsche Welt! Er wäre bis mit zum Ende an der Seite „des Führers“ gegangen und würde, von seinen bereits vollzogenen Kriegsverbrechen abgesehen, noch viele weitere begehen, hätte der Führer nur die leiseste Andeutung gemacht.  Jedoch konnten sie ihr geplantes Ziel wegen der Opposition nicht durchführen, was er unberechtigt, nicht fair, fand. Diesen Gedanken teilte er seinen Kindern an jenem Tag vor 5 Jahren mit, jedoch verstand er ihre Empörung und aufkommende Abneigung keineswegs. Was ihn aber viel mehr verwirrte, war, dass sie nicht seiner Meinung waren. Für Friedrich Müller hatte und wird es immer nur diese Ansicht über eine „faire Welt“ geben und er würde eher Selbstmord begehen, als sich umstimmen zu lassen.

Alessandra Black, 48, erfolgreiche Anwältin besaß alles, wovon ein kleines Mädchen nur träumen konnte: Ein Apartment in New York, schöne Kleider, attraktiven Mann, 2 liebe Kinder und so viel Geld, das auch für 2 weiteren Generationen reichte. Jedoch wurde ihr das alles von Anfang an nicht einfach so in die Hände gegeben. Sie hat ihr Leben lang hart gearbeitet, musste auf vieles verzichten, war aber mit ihrem heutigen Zustand äußerst zufrieden und bereute keine einzige Entscheidung, die sie in ihrer Vergangenheit beging.  Jeden Tag sah sie die Menschen, die sie über alles liebte und tat das, was ihr am meisten Freude bereitete.  Von einem solchen Leben, wie sie es heute genoss, träumte sie  schon als kleines Kind, da ihre Familie früher nicht viel Geld hatte und die Eltern sich sehr anstrengen mussten, um Alessandra überhaupt auf die Schule schicken zu können. Sie war ihren Eltern seitdem unglaublich zu Dank verpflichtet und um sie nicht zu enttäuschen, strengte sich das kleine Mädchen so sehr an, dass sie es schließlich sogar schaffte, an der „University of Harvard“ mit Vollstipendium aufgenommen zu werden  und somit ihrem großen Traum, angehende Juristin zu werden, einen Schritt näher war.  Ihr Ziele und Träume bestanden darin, sich für die internationale Gleichberechtigung und den allgemeinen Frieden einzusetzen- das war ihre Vorstellung von „ A fair world“ – Respekt voreinander ist das einzige, was zählt.   

Jonathan Meng weinte sich schon wie so oft diesen Abend wieder in den Schlaf. Der 10 jährige Junge hatte vor genau einem Jahr seine beiden Eltern bei einem Autounfall verloren. Seitdem wohnte er bei seiner Großmutter weit weg von seinen Freunden und seinem bisherigen Leben. Als er die erste Zeit in seiner neuen Umgebung verbrachte, schien zunächst alles gut zu verlaufen, jedoch konnte  Jonathan plötzlich seit einem halben Jahr nur wieder daran denken, wie seine Eltern starben. Seine Träume waren das Schrecklichste, da sie immer grausamer wurden, sodass Jonathan noch am nächsten Tag die Bilder im Kopf hatte, wie der Körper des Vaters blutdurchtränkt oder der Hals seiner Mutter eigenartig verdreht war. Trotz dieser seelischen Belastung traute er sich nicht, mit irgendjemanden darüber zu reden. Seine Bemühungen, seine Trauer zu verbergen, scheiterten aber, da seine Großmutter nach einiger Zeit sein Verhalten bemerkte. Jedoch wollte sie sich ihrer erst vollkommen sicher sein und handelte vorerst nicht. Das Kind weinte aber an diesem Abend so verbittert, dass sie zu ihm ins Zimmer kam und fragte: „Na, was ist los?“ Jonathan nahm  nicht wahr, dass sie in das Zimmer gekommen war und erschrak bei der Frage, fasste sich jedoch wieder, da er die sanfte Stimme seiner Granny erkannte und versuchte ihr mit möglichst ruhiger  Stimme zu antworten: „Ich muss immer daran denken, wie es geschah und frage mich wieso…“, seine Stimme begann zu zittern, „… wieso...wieso sind sie nur gestorben? Wieso gerade sie? Das ist nicht fair!“ Jonathan fing wieder an zu weinen. Granny nahm den Jungen in die Arme und sagte bedächtig: „ Du fragst, wieso sie gestorben sind? Die Antwort darauf kann ich dir nicht geben. Vielleicht war ihre Zeit gekommen und Gott war der Meinung, sie zu sich holen zu..“-„Ich glaube nicht an Gott!“- „… er war der Meinung sie zu sich holen zu müssen, da sie ihren gemeinsamen Lebenswunsch schon erfüllt haben. Und weißt du, was sie am glücklichsten gemacht hat?“, Jonathan schüttelte den Kopf, „Das Schönste war für sie, dein Lächeln zu sehen. Trage ihren Tod nicht nach, denn es wäre sicherlich nicht ihr Wunsch gewesen, dich jeden Tag weinen zu sehen. Weißt du, Jonathan, alles ist vergänglich und in mancher Hinsicht ist es nicht fair, etwas, was dir wichtig ist, zu verlieren, jedoch hast du deine Erinnerungen, an die du dich festhalten kannst. Aber weißt du was noch besser ist?“, Jonathan schüttelte wieder den Kopf, „Das Leben, dein Leben, geht weiter und es gibt neue Dinge zum Kennenlernen und ich bin mir absolut sicher, dass dich eines Tages eine Personen abgesehen von mir so innig lieben wird wie deine Eltern! Aber zerbrich dir nicht allzu sehr den Kopf darüber, was fair und was unfair ist. Dinge passieren und du kannst womöglich ihren Lauf nicht ändern…so ist das Leben. Nimm sie hin, wie sie sind und lerne daraus. Eine absolut faire Welt gibt es nur in unseren Träumen.“

(14 Jahre)