Ausradiert

 

von

 

Celina Maier

 

Früher lebte ich zurückgezogen, allein und war für viele unsichtbar. Nachdem ich wiedermal einen langen Tag in der Schule hinter mir hatte, zog ich mich in mein Zimmer, zu meinen Zeichnungen, zurück. Meine Eltern bekamen mich kaum zu Gesicht, was bei fünf Geschwistern aber auch kaum weiter auffiel. Ich aß nie mit ihnen zu Abend oder nahm an dem Familien-Spiele-Abend teil. Ich war wie der Schatten meiner selbst. Man konnte fast sagen, ich wäre Menschenscheu gewesen. In der Schule hatte ich keine Freunde, obwohl mein größter Wunsch war, einen Seelenverwandten zu finden. Jemand der so dachte und fühlte wie ich. Aber viele Leute aus meiner Klasse wussten, selbst nach drei Jahren, immer noch nicht meinen Namen. Doch dann kam ein Tag, der alles veränderte …

 

Dieser Tag begann wie jeder andere. Ich stand um halb sieben Uhr am Morgen auf, um keinem Mitglied meiner Familie über den Weg zu laufen, und machte mir mein Körnermüsli mit Himbeeren und Joghurt. Genau eine Hälfte Joghurt und eine Hälfte Körnermüsli mit Himbeeren. Ich setzte mich an den Esstisch und begann nachdenklich zu kauen, meine Gedanken drehten sich um den heutigen Nachmittag. Einmal im Monat ging ich zum Zeichenladen, um mich wieder mit neuen Farben einzudecken. Das war mein Highlight des Tages (dachte ich zumindest). Eine halbe Stunde später stand ich bepackt mit meinem Schulrucksack an der Bushaltestelle. In fünf Minuten kam mein Bus und langsam füllte es sich rund um mich. Freunde begrüßten sich und tauschten sich gegenseitig aus, was sie am Nachmittag noch unternommen hatte. Ich fühlte mich auf einmal einsam und ein Schmerz stach mir ins Herz. Ich merkte, dass ich mich ablenken musste, und kramte meinen Skizzenblock und meinen uralten Bleistift aus meinem Rucksack. Mit ein paar gezielten Strichen malte ich den Umriss eines Mädchens. Es stand, wie ich, ganz alleine da und wippte mit dem Kopf. Ich sah das Ohrenstöpsel in ihren Ohren steckte. Sie hatte ein markantes Gesicht. Es wirkte offen, freundlich und aufmerksam, aber ich traute mich nicht sie anzusprechen. Was würde sie nur denken wenn ein wildfremdes Mädchen, mit einer alten Hosen und einem schwarzen, teilweise löchrigen Top, sie ansprach. Ich schaute noch ein paar Mal zu ihr herüber, bevor der Bus kam.

 

Leute wie sie waren selten, sie war alleine, stand nicht in einer Gruppe und wirkte dabei nicht wie ein Totalstreber. So stellte ich mir meine beste Freundin vor. Aber fünf Minuten später im Bus hatte ich sie schon wieder vergessen und starrte aus dem Busfenster. Immer mehr Schüler stiegen ein, es wurde voller und lauter. Ich presste mein Gesicht ans Fenster, denn Menschenmengen hasste ich wie die Pest. Leider ließen sich diese auch in der Schule nicht vermeiden. Mich sah man nicht an, und wenn man mich ausversehen anrempelte, drehte man sich nicht um, um sich zu entschuldigen. Ich war wie ausradiert. Vielleicht brauchte ich etwas das mich mit Farben ausfüllte und mich leuchten ließ. Ich brauchte etwas dass mich erfüllte. Über diese Feststellung grübelte ich auch noch in den zwei folgenden Stunden Mathe nach, bis mich etwas aus den Gedanken riss. Der Lautsprecher oben rechts in der Ecke unseres Klassenraums knickte und knackte, dann kam noch ein scheußliches Quietschen, bevor man die Stimme unserer Direktorin hörte, >>sehr geehrte Schüler der Jahrgangsstufe 8, bald sollen an unserer Schule Streitschlichter eingesetzt werden, damit die Prügeleien auf dem Schulhof zurückgehen. Wer Interesse hat, meldet sich bitte in der zweiten Pause im Sekretariat von Frau Springer!<< Noch ein kurzes Knacken und die Durchsage war beendet. Mein Gehirn begann auf Hochtouren zu arbeiten.

 

Streitschlichterin, das hörte sich irgendwie gut an. Marina die Streitschlichterin des Ludwig-Heine Gymnasiums. Ich beschloss mich nach der zweiten Pause mal im Sekretariat zu melden, und mich über diese Aufgabe zu informieren. Später stellte ich fest, dass ich anscheinend nicht die Einzige war, die sich für diesen kleinen Job interessierte. Viele Leute, die ich noch nie zuvor auf dem Pausenhof gesehen hatte, unterhielten sich angeregt über die Aufgabe eines Streitschlichters. Darunter auch das Mädchen von der Bushaltestelle heute Morgen. Sie lächelte mich an. Ich merkte, wie mein Mund zurücklächelte und war gleichzeitig erschrocken. Hier standen Mädchen und Jungen, die mich ganz normal behandelten und mich nicht ignorierten, weil ich vielleicht nicht gerade die neusten Markenklamotten trug. Die Stimmung war locker und ich begann mich mit dem Mädchen zu unterhalten. >>Hi, ich bin Jenny! Und wie heißt du?<<, sie sah mich fragend an, >> Ähm, ich bin Marina.<< Jenny nickte und blieb neben mir stehen. Das Klacken der Pumps von Frau Springer war schon von Weitem zu hören. Aber sie war nicht allein. Neben ihr stand ein großer, braun gebrannter Junge. Lässig steckte er die Hände in die Hosentasche und sah dabei einfach nur unglaublich gut aus. >>Hallo alle zusammen! Schön, dass ihr gekommen seit. Das ist Lion, der dieses Projekt hier leitet. Er wird euch einiges über die Aufgabe des Streitschlichters erklären.<<, und schon klackerte die Springer wieder davon. Lion grinste und ließ eine Kaugummiblase zerplatzen. >> Hi, ich bin Lion und besuche momentan die zehnte Klasse hier an der Schule. Ich habe mich dafür gemeldet, dieses Projekt hier zu leiten. Zuerst einmal müssen alle Leute die Lust haben Streitschlichter zu werden an einer Ausbildung teilnehmen. Zu dieser würden wir dann als Gruppe in Begleitung von Herr Berg fahren. So eine Ausbildung dauert drei Tage und findet für uns in einer Jugendherberge statt. Dass heißt, wir würden dann dort auch übernachten. Informationen und Einverständniserklärungen teile ich nachher noch aus. Die Fahrt findet schon in zwei Wochen statt.

 

Wenn man Streitschlichter ist, ist immer wichtig, dass man neutral bleibt und für niemanden Partei ergreift. Man muss sich die Situation immer von allen Beteiligten anhören und dann eine gemeinsame Lösung finden. Außerdem habt ihr eine Art Schweigepflicht. Alles, was bei der Streitschlichtung gesagt wird, ist streng vertraulich. Nichts von dem dürft ihr weitertratschen, okay? Alles Weitere werdet ihr ja dann mit mir auf dem Lehrgang erfahren. Wer Interesse hat, kann sich jetzt die Unterlagen abholen.<<, beendete er seinen Vortrag und zwinkerte. Dieser Lehrgang hörte sich echt toll an. Drei Tage mit Jenny und anderen Leuten, mit denen ich mich total gut verstand und natürlich mit Lion. Man wurde von der Schule freigestellt und lernte eine Menge darüber, wie man Streits gerecht schlichten konnte. >>Bist du dabei?<<, fragte mich plötzlich jemand. Erschrocken blickte ich auf. Vor mir stand Lion hielt mir ein paar Unterlagen hin und strahlte mich an. Ich blickte zu Jenny, die schon fleißig am durchlesen war, strich mir eine Strähne hinters Ohr und strahlte zurück, >>Klar doch!<< >>Wow! Das wird so was von spannend!<<, Jenny hüpfte um mich herum. Wir fuhren ja mit demselben Bus und dass erste Mal seit drei Jahren saß ich nicht alleine. Ich nickte. >>Was machst du heute Nachmittag eigentlich noch so? Wir könnten schon mal eine Packliste aufstellen?<<, fragte sie mich begeistert. Ich überlegte. Der Zeichenladen konnte warten, meine neue Freundin ganz sicher nicht. >>Eigentlich habe ich noch nichts vor. Du könntest ja zu mir kommen.<<, überlegte ich laut. Jenny nickte und notierte sich meine Adresse. Ich freute mich schon tierisch auf den heutigen Nachmittag. Meine Eltern waren zwar überrascht, aber dennoch begeistert von dem Lehrgang. Mein Vater setzte seine Unterschrift unter das Formular und alles war gebongt. Meine Mutter fragte mich zum dritten Mal, ob ich denn auch wirklich Lust hätte, und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Vielleicht hätte ich Jenny nicht gleich am selben Tag einladen sollen, denn das ich eine Freundin mit nach Hause brachte war nun wirklich zu viel für meine Mutter. Sie wurde ganz grün im Gesicht und mein Vater eilte herbei um sie zu stützen. >>Hallo ich bin Jenny!<<, stellte Jenny sich vor und streckte meiner Mutter die Hand entgegen. Deren Augen waren nun riesengroß und starrten Jenny an wie eine Außerirdische. Schnell zog ich sie mit mir die Treppe hoch. >>Hab ich irgendwas im Gesicht?<<, fragte diese misstrauisch. >>Nein, nein. Alles okay!<<, versicherte ich ihr schnell. Dass ich in den letzten paar Jahren kaum Freunde mit nach Hause gebracht hatte, musste sie ja nicht gleich wissen. >>Hey! Die Bilder sind ja toll!<<, erstaunt betrachtete Jenny die mit Tusche gemalten Kunstwerke auf meinem Schreibtisch. >>Danke!<<, ich wurde rot. Zur Ablenkung zog ich meinen Block hervor. Wir machten es uns auf meinem Bett bequem und begannen eine Packliste zu schreiben. Das Blatt füllte sich schneller als ich gucken konnte. >>Und vergess das Monopoly nicht! Wir könnten dann mal einen gemütlichen Spieleabend veranstalten!<<, fiel Jenny noch ein. Ich schrieb es auf die Liste und machte meinen Filzstift zu. >>So! Das reicht jetzt aber! Sonst gehen unsere Koffer nicht mehr zu!<<, ermahnte ich sie. Jenny nickte und schwieg eine Weile. Dann fragte sie plötzlich, >>Wie findest du eigentlich diesen Lion?<< Ich wurde schon wieder rot, >>Er ist schon ganz süß.<< Jennys Augen blitzten auf. >>Dachte ich es mir doch! Ich verspreche die, ich verkuppel euch beiden schon noch! Ihr wärt das Traumpaar der Schule!<<, meinte sie ernst. Ich lachte, >>Tu dir keinen Zwang an Jenny!<< Es wurde noch ein wunderbarer Nachmittag. Wir spekulierten, wie es wohl werden würde, Streitschlichterin zu sein und was wir beim Lehrgang alles lernen würden. Wir hievten sogar schon meinen alten Koffer aus dem Keller. Die Ausbildungsfahrt konnte kommen! … und eines kann ich euch verraten, der Lehrgang war toll. Wir erfuhren viel über das Streitschlichten und ich fand endlich die Freunde, die ich mir schon so lange ersehnt hatte. Heute bin ich schon seit einem Jahr Streitschlichterin und nun seit drei Monaten mit Lion zusammen. Jenny hatte ihr Versprechen gehalten und uns beide verkuppelt. Alle meine Wünsche sind restlos in Erfüllung gegangen.

 

Man könnte sagen, ich leuchte endlich wieder in einer vollen Farbpracht.

 

(13 Jahre )