Mala - Mein Leben im fremden Land
,,Wir werden angegriffen!" Die Worte meines Onkels erreichten mich und ich fuhr herum. Ich hatte eine Zeit lang friedlich mit meiner Familie in einem kleinen Dorf an der afrikanischen Küste gelebt, doch diese Zeiten waren nun vorbei. Endgültig. Noch vor ein paar Tagen hatte ich mit meiner Mutter Körbe geflochten und Wasser geschleppt. Doch auf einen Schlag war das alles vorbei. Endlich sah ich das riesige, hölzerne Schiff das an unsere Küste angelegt hatte. Die englische Flagge wehte im Wind. Ein brennender Pfeil schoss an mir vorbei und blieb in einer Strohhütte stecken und auf einmal brannte das Dorf lichterloh. Da krachte es und unsere Schutzmauer fiel in sich zusammen. Wir waren in der Unterzahl und hatten keine Chance. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ich begann zu rennen, um mich in Sicherheit zu bringen, doch jemand packte mich am Arm. Es war ein kräftiger Mann. Er brüllte etwas, das ich nicht verstand. Ich wurde auf ein Schiff gezerrt. Ich war erst 12 und nicht sehr stark. Sich zu wehren war zwecklos. Ich wurde in ein Verlies unter Deck geworfen. Das Schiff setzte sich in Bewegung und ich schrie verzweifelt um Hilfe.
Es war zu laut, niemand konnte mich hören. Ich begann zu weinen. Plötzlich stoppte das Schiff ruckartig ab und ich wurde herumgeschleudert. Da öffnete sich das eiserne Gitter des Verlieses und etwas wurde auf mich geschmissen. Dann wurde das Gitter wieder zugeknallt. Ächzend und stöhnend setzte ich mich auf. Vor mir lag ein Mädchen, das so aussah, als wäre sie nicht viel älter als ich. Es erhob sich schwerfällig. Wir sahen uns mit angsterfüllten Blicken an aber wir wagten nichts zu sagen. Irgendwann fuhr das Schiff weiter. Ich machte mir Gedanken um meine Familie, darum, wie es jetzt weiter gehen sollte. Nach einer scheinbar endlosen Reise von drei Tagen hielt das Schiff wieder an. Ich hatte mit dem Mädchen immer noch kein Wort gewechselt. Das Verlies wurde wieder geöffnet. Zwei Männer kamen hinein und zerrten uns weg. ,,Lasst mich los!", schrie ich, aber die Männer schenkten mir keine Beachtung.
Schließlich wurden das Mädchen und ich in eine Stadt geführt. Die Häuser sahen prunkvoll aus und die Menschen trugen edle Kleidung. Ich sah, dass wir nicht die einzigen Gefangenen waren: Vor uns standen noch viele andere Kinder in einer Reihe. Ein edel aussehender Mann rief etwas aus, aber es war in einer anderen Sprache, weshalb ich ihn nicht verstehen konnte. Ein paar Menschen hoben ihre Hände und eine Frau zeigte auf das fremde Mädchen und mich. Mir vielen ihre ordentlich hochgesteckten Haare und ihre blasse Haut auf. Sie trug ein Kleid, das mit Spitze und Seide verziert war. Wir wurden zu der Frau gezogen und liefen eine Weile durch die Stadt. Das Mädchen und ich versuchten immer wieder zu fliehen, doch ohne Erfolg. Als Strafe wurden wir, im Haus der Frau angekommen, in eine kleine Dachkammer gesperrt. ,,I... Ich heiße Mala...", sagte ich. Da das Mädchen scheinbar die gleichen Absichten hatte wie ich, vertraute ich ihm. „Ich heiße Saalie. Woher kommst du?" Ich sah zu Boden. ,,Aus einem Dorf an der Küste Afrikas... Ich habe dort mit meiner Familie gelebt. Das Dorf ist aber vollständig nieder gebrannt..." Saalie sah ebenfalls zu Boden.
Ihre dunkle Haut erinnerte mich an die meines Vaters. Wir schwiegen eine Weile. Da wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann stand dort. Er trug eine seltsame weiße Halskrause und edle Kleidung. Später erfuhr ich, dass dieser Mann Francis Drake hieß und dass ich mich in England aufhielt. Francis machte eine Handbewegung in die Richtung der Frau und meinte: ,,Miss Viktoria." Dann signalisierte man uns, dass wir in die Küche gehen sollten. Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte, die Situation überforderte mich maßlos. Miss Viktoria machte eine Handbewegung, die aussah, als würde sie mit einem unsichtbaren Messer Gemüse schneiden. Ich bewegte mich in Richtung Schrank, holte ein Messer heraus und begann, einen Apfel zu schneiden. Saalie tat es mir nach. Francis verabschiedete sich von Miss Viktoria und ging. So vergingen zwei Jahre, in denen wir Wäsche wuschen, Essen kochten und Betten machten. Wir teilten uns die Dachkammer und lernten immer mehr englisch. Fast hätte ich meine Heimat vergessen, doch abends, wenn das rot der untergehenden Sonne auf Saalies Haut schimmerte, erinnerte es mich an meine Herkunft. Ich war nun schon 14 Jahre alt. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag im Sommer, ich putzte gerade eine Vase und Saalie war auf dem Marktplatz um Wasser vom Brunnen zu holen. Da klopfte es an der Tür. ,,Ich gehe an Tür.", sagte ich in meinem wackeligen Englisch. Als ich die Tür öffnete, stand dort ein Mann. Er kam mir bekannt vor. ,,Ich bin Francis Drake. Ich würde gern Miss Viktoria sprechen." Da viel es mir wieder ein. Dieser Mann war der Selbe, der Saalie und mich verschleppt hatte! Ich kochte vor Wut, doch ich musste höflich bleiben. ,,Hier ist sie...", sagte ich, ließ Francis hinein und ging selbst raus. Ich lief zum Marktplatz um Saalie zu suchen. Ich sah, dass sie sich über den Brunnenrand beugte. ,,Er ist da rein gefallen!", rief ein kleiner Junge. Dann grinste er und stieß Saalie von hinten in den Brunnen. Sie konnte sich gerade noch so mit einer Hand am Brunnenrand festhalten. ,,HILFE!", schrie sie. Ich rannte los um ihr zu helfen.
Mit aller Kraft zog ich sie aus dem Brunnen. Ein dunkelheutiger, junger Mann kam zu uns gerannt. ,,Ist alles in Ordnung?", fragte er. Wir sahen ihn an. ,,Ihr arbeitet auch, oder?" Wir nickten. ,,Ich heiße Mala und das ist Saalie. Wir kommen aus Afrika, sind aber schon seit zwei Jahren hier." Der junge Mann lächelte. ,,Ich auch! Ich heiße Shahier." Shahier half uns einen Eimer zu finden, denn Saalies Eimer war in den Brunnen gefallen. ,,Ich muss gehen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.", sagte er dann, und lief davon. Endlich konnte ich Saalie von Francis erzählen. Als ich die Tür öffnete sah Miss Viktoria uns wütend an. ,,Warum bist du weg gegangen? Die Vasen sind noch nicht richtig sauber!" Sie holte mit der Hand aus um mich zu schlagen, aber Saalie sprang vor mich.
,,Nein! Das war meine Schuld!", schrie sie. Saalies Englisch war bei Weitem besser als meins, aber ich konnte sie verstehen. ,,Du hast mir nicht in Angelegenheiten zu pfuschen! Ihr werdet für den Rest des Tages Arbeiten, bis in den späten Abend, ist das klar?" Wir nickten. Seufzend begann ich, die Vasen fertig zu säubern. Saalie wusch währenddessen die Gardienen. Am Abend ließen wir uns erschöpft auf den Boden sinken. Die Dachkammer reichte vom Platz her gerade noch so. Da klopfte es plötzlich am Fenster. Wir erschraken, aber Saalie nahm ihren Mut zusammen und öffnete... ,,
Shahier! Was machst du hier? Mitten in der Nacht!" Shahier hielt sich mit den Händen am äußeren Fenstersims fest und zog sich jetzt hoch. Dann kletterte er ins Zimmer. ,,Macht schnell das Fenster zu...", flüsterte er. Das tat Saalie. Dann sahen wir Shahier an. ,,Also, was machst du hier?", fragte ich nervös. Ich hatte schon eine Vermutung. ,,Ich bin geflohen. Kann ich mich hier verstecken? Im Schrank oder so...", meinte Shahier und grinste. Ich sah ihn ernst an. ,,Wenn Miss Viktoria das mitbekommt, dann wars das!" Wir sahen uns alle an, dann sagte Saalie: ,,Aber wenn wir ihm nicht helfen, wäre das nicht richtig! Wir sind doch aus der gleichen Heimat! Miss Viktoria sieht doch eh nicht in den Schrank!" Die Sache war mir ziemlich unangenehm, aber ich wollte Shahier natürlich auch nicht auffliegen lassen.
Aber er war immer noch ein Fremder, der ab jetzt in unserem Schrank leben würde... Ab dem nächsten Tag an schmuggelten Saalie und ich immer wieder Brotstückchen mit in die Dachkammer. Das war gar nicht so schwer, da Miss Viktoria oft in ihrem Zimmer, oder ganz außer Haus war. Doch eines Morgens klopfte es an die Tür. Saalie öffnete. Dort standen eine hübsche, schüchterne Frau, ein Mann und ein Wachmann. ,,Guten Tag! Letzte Nacht wurde Mister Loyer eine Edelsteinkette und zwei Goldstücke gestohlen. Wir müssen das Haus durchsuchen!" Saalie ließ sie herein. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Ich vermutete, dass die Frau Miss Loyer war. Miss Viktoria war nicht sehr erfreut. Ob man ihr nicht vertrauen würde, oder sie verdächtigen könnte, schimpfte sie. Schließlich gingen die drei Besucher auch in die Dachkammer. Langsam näherte sich der Wachmann dem Schrank. Als er die Tür öffnete schrak er zurück. Shahier kauerte hinten in der Ecke. Ohne groß zu überlegen stürmte er an allen vorbei. Saalie und ich folgten ihm. Wir konnten uns jetzt nicht mehr unschuldig reden, wir konnten nur noch rennen. Es war unsere einzige Chance.
Ich hörte die schnellen Schritte des Wachmanns hinter mir. Ich blickte zurück. Miss und Mister Loyer und auch Miss Viktoria rannten uns zusammen mit ihm hinterher. Nach einer langen Verfolgungsjagt die zwischen engen Gassen und auf Marktplätzen stattgefunden hatte, hatten wir die Verfolger endlich abgeschüttelt. Wir versteckten uns hinter einigen leeren Bierfässern. ,,Das war knapp!", stöhnte ich, denn mir tat jeder Muskel weh. ,,Was machen wir jetzt?", flüsterte Saalie verzweifelt. Ihr kullerte eine Träne über die Wange. ,,Wir können nicht ewig hier bleiben!"
Da hörte ich Schritte. ,,Hier müssen sie irgendwo sein!", rief jemand, ich vermutete, es war der Wachmann. Empört rief Mister Loyer: ,,Was müssen Sie eigentlich für ein Drama machen! Wir sollten lieber nach dem Geld suchen!" Miss Viktorias Stimme war zu hören. Sie regte sich darüber auf, dass wir ja wohl viel wichtiger währen, weil wir bestraft werden müssten! Daraufhin entbrannte ein wilder Streit. Miss Loyer trat näher an das Fass heran, hinter dem wir uns versteckten. ,,Steigt in die Fässer!", flüsterte sie. ,,Sie werden auf ein Schiff das nach Afrika fährt geladen!" Dann trat sie wieder bei Seite. Ich überlegte krampfhaft, ob wir ihr vertrauen durften, zumal sie eigentlich keinen Grund hatte, uns zu helfen. Ich sah Shahier und Saalie mit einem fragenden Blick an.
Shahier zuckte mit den Schulten. Nachdem die "Streithähne" weitergegangen waren, flüsterte Saalie: ,,Ich denke, dass wir keine andere Wahl haben!" Shahier und ich stimmten ihr da zu. Wir öffneten die Deckel von drei der riesigen Fässer und kletterten hinein. Ein muffiger Geruch nach altem Bier schwall mir entgegen. Als ich von innen den Deckel schloss, wurde es Stock dunkel. Ich hatte Angst. Es war wie vor zwei Jahren: Eine Reise ins Unbekannte, eingesperrt und allein. Ich wusste nicht, ob wir es in Afrika überhaupt besser haben würden als in England. Ob es überhaupt noch ein Dorf gab? Ob überhaupt jemand aus meinem alten Dorf überlebt hatte? Ich hoffte nur, dass ich die Reise überstehen würde, so ohne Essen und nur mit dem bisschen Wasser, was sich im Fass angesammelt hatte. Außerdem hoffte ich, dass ich Saalie und Shahier wiedersehen würde... Wir hatten uns nicht einmal richtig verabschiedet. Da spürte ich, wie das Fass hochgehievt wurde. ,,Die sind verdammt schwer! Ich dachte, dass wären leere Fässer!" Eine raue Stimme antwortete. ,,Dann hör auf zu denken und streng dich halt ein bisschen an!" Nach einer Weile wurde das Fass abgestellt. Unsere Reise ins Unbekannte begann...
12 Jahre