Vergessenes Foto

 

 

 

  Sie blickt auf das Bild in ihrer Hand und ihr erster Gedanke ist, dass sie ihn nie wieder so sehen wird. Dass sein Anblick in ihrem Gedächtnis eingebrannt sein müsste, weil er die Liebe ihres Lebens gewesen ist. Doch nichts regt sich mehr in ihrem Inneren. Waren ihre Gedanken eingeschlafen mit ihm? Oder hatte sie das schon länger? Sie kann sich nicht erinnern. Es ist, als wäre eine Stoppuhr in ihrem Inneren einfach stehen geblieben. Als würde sie ihr den Dienst verweigern.

 

 

 

  Sie schmunzelt. Dass hat es doch noch nie gegeben, dass er sie nicht hätte reparieren können. Er hat doch sonst immer alles repariert. Das Auto, die Waschmaschine, das Telefon, den Wasserhahn. Und manchmal auch sie. Sie, ihr Innerstes und das Durcheinander darin. Für ihn war es wie Selbstheilung gewesen, wenn er sehen konnte, dass es ihr besser ging, wenn er zuschauen durfte, wie sie die Schultern straffte und einen Fuß vor den nächsten setzte. Dann lächelte er und nahm sie in den Arm.

 

 

  In den letzten Jahren hatte sie ihn öfter in den Arm genommen, als er sie, denn er hatte es nicht mehr gekonnt. Das kleine Schalentier in ihm hatte sein Innerstes zerstört, doch er hatte sie geliebt, bis zum Schluss, da war sie sicher. Und an dieser Erkenntnis hielt sie sich fest.

 

  Er ist noch da, er wird immer da sein. Für mich und für sich, bis in alle Ewigkeit.

 

 

 

  Es ist zerknickt, das Foto, sie spürt es ganz genau an den Rillen und Rissen unter ihren Fingern. Vorsichtig streicht sie mit der Fingerkuppe über das zermürbte Papier und lächelt leise. Er war ihr ein guter Mann gewesen.

 

  Sie selbst hatte dieses Bild gemacht, unter der alten Linde in der Hofeinfahrt. Die Kamera war das neueste Modell gewesen und sie sehr stolz darauf.

 

 

  Die Erinnerung steigt in ihr hoch, schneller denn je und überschwappt sie, wie eine Welle auf hoher See. Auf hoher See. Ja, auch davon hatte sie noch viele Bilder, von der See und den Wellen und ihm und davon, wie er mit ihnen spielte, wie mit kleinen Katzenbabys. Manchmal kamen sie und wenn man dann auf sie zuging, weil man sie streicheln wollte, rannten sie schnell wieder weg.

 

 

 

  Doch dann hatte es angefangen, das Vergessen. Zunächst hatten sie es hingenommen und Witze darüber gemacht. Dass sie alt werden würde. Dass es von den Wechseljahren kommen würde. Dass sie es ganz sicher wieder würden flicken können. Dass sie jetzt ins Altersheim müsste.

 

 

  Sie hatten es beide unterschätzt, das Loch in ihr. Denn sie war 37 gewesen.

 

 

 

  Es war schlimmer geworden.

 

Sie vergaß, das Auto und die Türen abzuschließen, lief gegen Fenster und verlor den gesamten Überblick über ihr Leben. Sie hatte einen Moment nicht haarscharf aufgepasst und schon war ihr etwas entgangen. Javid hatte sich um sie gekümmert, sie umsorgt und alles für sie getan. Sie war ihm dankbar gewesen dafür und gemeinsam hatten sie gehofft, dass es vorübergehen würde und schließlich ganz verschwinden.

 

 

  Doch es ging nicht vorüber. Es blieb.

 

 

  Also hatten sie versucht, trotz alledem weiterzuleben und glücklich zu sein. Sie waren in Urlaub gefahren und hatten drei Kinder groß gezogen. Sie hatten einen Hund und eine Katze gehabt und einen Papagei, der sprechen konnte. Alles hatten sie ausprobiert, in allen Varianten. Gemeinsam waren sie wandern und Joggen gegangen, Schwimmen und Klettern in den Bergen.

 

  Er hatte ihr das Leben wieder lebenswert machen wollen. Oft hatte er sich viel Mühe gegeben, die er sich gar nicht hätte machen müssen, weil sie es sowieso wieder vergaß. Es machte ihm nichts, wenn sie nicht mehr wusste, wie er hieß oder wer er war, zumindest glaubte sie das.

 

  Zusammen wurden sie älter und sie beide waren glücklich über den Verlauf der Dinge und auch darüber, dass es nicht tiefer wurde oder breiter, das Loch in ihr.

 

 

Und ganz plötzlich hatte sich vom einen Tag auf den anderen alles geändert in ihrem Paradies. Es war in  tausend kleine Stücke zerbrochen, wie ein Glas, wenn es zerspringt.

 

 

 

  Javid hatte zum Arzt gemusst, eine dieser ätzenden Kontrollen, die er ab und an hatte ausfallen lassen für sie. Genau das hätte er nicht tun sollen. Die Diagnose war dieses kleine Meerestier gewesen, sie erinnert sich nicht mehr an seinen Namen. Er war auch nicht wichtig, denn, und davon war sie überzeugt gewesen, sie würden es so oder so bald aus seinem Netz befreien und ins Wasser zurückwerfen.

 

  Nix werden Sie, das hatte der Arzt gesagt, als sie ihm seine Idee vorgetragen hatte. Und überhaupt, was ist eigentlich los mit Ihnen? Sie erscheinen mir äußerst unaufmerksam. Sind Sie immer so? Haben Sie sich schon einmal auf Hirnatrophie testen lassen?

 

  Sie hatte nicht verstanden, was er meinte, er war ein elender Angeber gewesen mit seinem Fachlatein und so hatte sie einfach den Kopf geschüttelt. Falsche Antwort.

 

 

  Schnell hatten sie sie in ein Labor geführt und alle möglichen Tests mit ihr gemacht. Viele Fragen gestellt, von denen sie nicht eine hatte beantworten können. Jetzt erinnert sie sich manchmal an die Antworten und Lösungen auf alle ihre Fragen und Aufgaben, aber jetzt war es zu spät.

 

 

 

  Javid hatte stationär bleiben müssen und sie selbst wurde in einen riesigen grauen Klotz geführt. Hier war sie jetzt immer noch. Sie hatte ein Zimmer mit weißen Wänden, einem Bett und Schreibtisch. Von Javid hatte sie kaum noch etwas gehört, nur manchmal, wenn sich ihr Zustand gebessert hatte, durfte sie ihn besuchen. Nun war er fort, weit fort von hier und auch von ihr, das spürt sie an der Leere in sich.

 

 

 

  Stumm blickt sie aus dem Fenster. Es regnet und die Tropfen prasseln leise gegen das einzige Fenster im Raum. Erneut schaut sie auf das Foto in ihrer Hand. Wo hatte sie es noch einmal aufgenommen? Sie weiß es nicht mehr.

 

 

  Lautlos beginnt sie zu weinen und dicke Tränen rollen über ihr faltiges Gesicht. Still schüttelt sie den Kopf. Wie hatte sie nur glauben können, dass man sie wieder reparieren könnte? Es geht ja doch nicht. Sie ist kaputt. Und stehengeblieben.

 

 

  Aber trotzdem ist er noch da und er wird auch immer da sein, denkt sie und der Gedanke an ihn macht ihr Mut.

 

  Für mich und für sich, bis in alle Ewigkeit.