Weißes schwarzes Mädchen
von
Julia Elisabeth Kanning
Hitze. Unerträgliche Hitze überall. Die Hitze ist eine hinterhältige Schlange, die sich über Nacht anschleicht, und sich dann um die Welt legt, versucht, sie und alle Menschen in ihr zu erdrücken, zu erwürgen. Verschlingt alles. Alles, was einmal schön und gut gewesen ist in unserem Land. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, aber mein Urgroßvater erzählt manchmal von der grünen Zeit, von der Zeit, als unser Stamm Herrscher dieses Gebiets war, als frisches Quellwasser unsere Äcker bewässerte und die Tiere anlockte, die unsere Krieger jagen konnten. Als gewaltige Affenbrotbäume unseren Kindern Schatten spendeten, als sie noch die Zeit hatten Kinder zu sein und wie Kinder zu spielen. Urgroßvater muss eines dieser Kinder gewesen sein, denn wenn er erzählt von der grünen Zeit, dann spiegelt sich ein Feuer in seinen müden, alten Augen und dieses Feuer lässt ihn wieder jung und glücklich aussehen. Aber wenn Urgroßvater weiter erzählt, wird dieses Feuer in seinen Augen gelöscht, gelöscht von Tränen. Denn wenn Urgroßvater weiter erzählt, erzählt er davon, wie erst immer mehr Menschen kamen, die über ihrer weißen Haut eine zweite merkwürdig farbige Haut trugen und in einer fremden Sprache brüllten, lauter als die Löwen. Er erzählt davon, wie diese Menschen – er sagt, sie nannten sich Europäer – Bäume fällten, Tiere töteten, stinkende Blechwesen durch unser Gebiet trieben und es mit ihnen immer kahler und immer heißer wurde. Wie zuerst die Quellen versiegten und unsere Krieger immer öfter mit leeren Händen von ihren Jagden zurückkehrten, wie unser Stamm wanderte und hungerte und dürstete und die Europäer verfluchte und die Götter um Hilfe bat und die Bäume vertrockneten und die Wasserfälle braun und dünn wurden und die Tiere mager und selten und die Kinder unglücklich und wie sich doch nichts änderte. Nichts änderte bis heute. Außer der Hitze. Die ist schlimmer geworden, sagt Urgroßvater. Ich glaube auch, dass die Hitze noch nie so schlimm, so erdrückend war wie heute. Ich spüre sie überall, bei jedem Atemzug schmerzt mein Mund, schmerzt meine Lunge. Meine Haut ist trocken und heiß, meine Lippen sind aufgerissen, voller Staub. Ich würde sie gerne befeuchten, aber ich muss sparen. Sparen an Spucke. Ich weiß noch nicht, ob ich heute genug zu trinken haben werde. Es ist so heiß, so unerträglich heiß. Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil ich Wasser holen muss und der Weg zu unserem selbst gebauten Brunnen so weit ist, so weit ist wie der Himmel. Weiß nicht wie lange ich schon unterwegs bin, wie lange ich noch unterwegs sein werde. Ich stelle die Wasserkanister ab, setzte mich auf sie und blicke mich um. Egal, in welche Himmelsrichtung ich blicke, im Westen, im Norden, im Süden, im Osten, überall endlose Weite. Endlose vertrocknete, staubige Erde, so rot wie Henna. Keine Bäume, nur tote Sträucher, vielleicht vertrocknet oder verbrannt. Darüber der Horizont, der Himmel. Er leuchtet nicht, ist nicht klar und blau wie zu der grünen Zeit von der Urgroßvater manchmal erzählt, der Himmel scheint schmutzig, Staub flimmert durch die Luft. Man bräuchte viel Wasser um ihn zu reinigen und zu polieren, damit er glänzt wie einst. Kleine verwaschene Wolken sind da oben zu erkennen. Ein Wolkengnu. Ein Wolkenspeer. So viele Formen. Ich kann träumen. Ich kann hier sitzen, auf meinen Wasserkanistern, ohne Schutz vor der Sonne und doch alles vergessen. Meine schmerzenden Füße, meinen dröhnenden Kopf, meine brennende Kehle. Alles fliegt davon und ich fliege mit meinen Gedanken zu den Wolken und zu den Träumen hinauf. Ich träume von einem anderen Leben. Von einem Leben, dass ich mir zusammenreime aus den Erzählungen meines Urgroßvaters und anderer Stammesmitglieder, von einem Leben an einem Ort, wo alles besser, schöner, glücklicher ist als hier. Von einem Leben in Europa. Ich habe wunderbar reine, wolkenweiße Haut, meine Haut ist so hell wie die Sonne. Ich habe lange Haare, lang bis zur Erde, ich muss sie nicht abschneiden, sobald sie über meine Ohren hinaus wachsen, denn ich lebe in Europa und dort ist es nie so heiß, dass ich unter meinen Haaren schwitze. In Europa ist es nie besonders warm, es regnet alle paar Tage und wenn es regnet, dann gehe ich hinaus und tanze im Regen, ich tanze ohne nass zu werden, denn ich besitze eine zweite Haut in meiner Lieblingsfarbe, in feigenviolett. Meine Mutter näht mir meine zweite Haut nicht aus den Tieren, die wir erlegen, nein, meine Mutter kauft sie, in einem Zelt aus festen Wänden, so groß wie man es sich gar nicht vorstellen kann. In diesem Zelt kauft sie nicht nur bunte Haut, sie kauft frische, saftige Früchte und blutiges Fleisch und Wasser mit Orangengeschmack. Und meine Mutter kauft so viel, sie kauft so viel, dass ich ununterbrochen essen kann. Von morgens bis abends. So viel ich nur will. Und alles, was ich will. Ich bin nie hungrig, höchstens tut mein Bauch weh, weil ich zu viel gegessen habe. Aber das ist nicht schlimm, denn in Europa gibt es gute Medizin. Es gibt gute Ärzte, die besten der Welt. Die sind zwar teuer, aber meine Mutter hat genug Geld um sie zu bezahlen, denn wir leben in Europa und haben ein großes Zelt aus festen Wänden und ich habe ein eigenes Zimmer, mit einem eigenen Bett und drei dicken Decken aus dem weichesten Stoff, den es auf dieser Welt gibt. Wir haben Geld, das macht uns besonders und reich und stark. Sogar ich bekomme Geld. Dabei arbeite ich nicht einmal, ich muss niemals meine Geschwister hüten oder Wasserholen oder im Haushalt helfen. Ich muss nur in die Schule gehen. Die Schule ist ein Ort, in den gehen alle Kinder in Europa. Wir haben eine nette Lehrerin und ich kann bereits rechnen, schreiben, ja sogar lesen. Wenn ich groß bin, will ich auch Lehrerin werden und einen Mann heiraten, den ich mir selbst aussuche und zwei Kinder bekommen und Geld verdienen und reisen, in Blechwesen, nicht bloß zu Fuß. In Europa ist mein Leben wunderschön, es ist ein Märchen, das wahr geworden ist und die Prinzessin, die bin ich. Alles ist möglich. In Europa. Keine Hitze. Kein Schuften. Keine Unterdrückung. Keine brennende Lunge. Keine blutenden Füße. Kein Krieg. Keine Dürre. Keine Krankheiten. Keine toten Kinder. Kein schmutziger Himmel. Alles ist in kräftigen Farben. Alles ist riesig. Alles ist grün. Alles ist gut. Alles ist gut. Es ist gut. Meiner Familie geht es gut. Mir geht es gut. Gut. Gut. Gut. Da ist nur noch dieses eine Wort in meinem Kopf. Gut. Es huscht umher, von einer Seite zur anderen. Gut. In meinen Träumen ist immer alles gut. Ich bin gut im Träumen. Das ist gut, so kann ich vergessen, aber eben doch nicht für immer. Schlagartig wird es mir bewusst, wie ein Sprung ins eiskalte Wasser, wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Leben in Europa – das ist ein Traum. Ich lebe hier. Nicht in Europa. Ich blinzle, öffne meine verklebten Augen, sehe diese trostlose, traurige, tote Landschaft und den schmutzigen Himmel. In mir wird es heißer, als ohnehin schon. Es brodelt, brodelt in mir und kribbelt in meinen Fingerspitzen und in meinen Fußzehen, wie ein Vulkan. Und dann, dann explodiert der Vulkan. Der Vulkan in mir bricht aus. Wut. Ich bin voller Wut, unbeschreiblicher, schäumender, heißer Wut. Ich bin so wütend auf mich, auf Europa, auf die Welt, auf den, der das alles veranlasst hat, auf mein Leben, auf die Wasserkanister, auf die Hitze, auf diese riesengroße Ungerechtigkeit. Es ist so unglaublich unfair! Was ist das für eine Welt, dass es einen himmelweiten Unterschied macht, ob du in Europa oder eben hier geboren bist? Dass allein die Tatsache, wo du geboren wirst, dein Leben beeinflusst, dein Leben entscheidet, dir entweder alles gibt oder gar nichts! Es ist so unfair! Warum wollen die Menschen, die alles haben, immer nur noch mehr, mehr, mehr und nehmen sich von denen , die immer weniger besitzen, immer weniger, bis es gar nichts mehr ist, gar nichts, nichts, nichts!? Alles und nichts. Reich und Arm. Glücklich und traurig. Alle Möglichkeiten und gar keine Chancen. Die Sorge, ob es zum Abendbrot lieber Fleisch oder Fisch geben soll und die Sorge, ob das Essen reicht, um den nächsten Tag zu überleben. Kinder in der Schule und Kinder beim Wasserholen. Wie kann der, der das alles bewachen und beschützen soll das zulassen?? Es ist so unfair! Unfair! Warum wird es immer heißer? Warum unternimmt niemand etwas? Warum sterben immer mehr Tiere, warum versiegen immer mehr Quellen, warum trocknet dieses Land aus, warum kümmert es niemanden, warum hilft niemand? Es ist so unfair! Warum habe ich dieses Los gezogen? Warum bin ich hier geboren? Warum habe ich keine Zukunft? Warum muss ich das Wasser schleppen? Warum darf ich nicht in die Schule gehen und Lehrerin werden und heiraten, wen ich will und warum kann ich nichts ändern? Warum bin ich dem ausgeliefert? Warum? Es ist so unfair! Wir leben in einer unfairen Welt! Wir leben in einer unfairen Zeit! Und ich mittendrin. Ich brülle, brülle wie ein Löwe, brülle hinein in diese ausgestorbene Weite, ich will meine Wut und meine Verzweiflung herauslassen, aber ich bekomme keine Antwort. Ich spüre den harten, staubigen Boden unter meinen nackten Füßen und springe, springe auf die Erde, so heftig ich kann. Der Schmerz betäubt meine Wut nicht. Heiße Tränen laufen über meine Wangen, tropfen auf die Erde, verbrennen mit einem Zischen. Da ist so viel Gefühl in mir, ich bin randvoll und weiß nicht wohin und was ich tun soll. Ich kann nur schreien und weinen und springen. Aber es bringt ja doch nichts. Es bringt ja doch nichts! Ich kann nur versuchen, das Beste aus meiner Situation zu machen. Ich bin 15 Jahre alt. Ich bin fast erwachsen. Nächsten Monat soll ich heiraten. Ich habe sieben Geschwister zu versorgen. Ich habe die Pflicht, nicht aufzugeben. Ich habe die Pflicht, weiterzumachen. Ich muss vernünftig sein. Ich kralle meine Finger in mein Fleisch und beiße mir auf die Zunge. Wie still es plötzlich ist. In mir brodelt es weiter, ich unterdrücke es. Versuche es zumindest. Ich muss weitermachen. Ich packe die Wasserkanister, richte mich auf, ich atme, ich sauge das Leben in mich ein. Einmal, noch einmal. Wonach schmeckt das Leben? Ich lasse meine Schultern beben, spüre das Gewicht der Wasserkanister, wie das Plastik in meine Hand schneidet. Die heiße Erde unter meinen nackten Füßen, den Staub auf meiner Haut, die Hitze um meinen Hals. Ich hebe den Kopf, langsam, andächtig. Ich spanne die Muskeln an. Und dann gehe ich.
15 Jahre