Mein Schicksal

von

Maria Tryfon

Jeden Morgen mussten mein jüngerer Bruder und ich zwei Kanister mit Wasser schleppen, jeder einen. Früh morgens um 6 Uhr liefen wir täglich los, damit wir mehr Wasser bekamen. Da in unserem Dorf ein Wassermangel, der durch eine lange Dürrezeit im letzten Jahr hervorgerufen wurde, herrschte, mussten wir in das Nachbardorf zum Fluss laufen. Der Weg war zwar immer gefährlich, da auf den Feldern und am Fluss möglicherweise Mienen liegen konnten, doch darüber machte ich mir damals nie Gedanken. Ich war immer froh meine tägliche Arbeit erledigt zu haben und endlich mit meinen Freundinnen etwas zu unternehmen oder in die Nachmittagsschule zu gehen. Wahrscheinlich hätte mein Leben für immer so ausgesehen, wenn mein Vater nicht eines traurigen Tages gestorben wäre. Er hatte schon seit langer Zeit Herzprobleme, an denen er schließlich auch starb.

Nach seinem Tod änderte sich einiges im Leben meiner Familie. Nicht nur, dass wir alle nun die täglichen Arbeiten meines Vaters übernehmen mussten, sondern dass wir auch alle hungern mussten. Einige Monate lebten wir alle in Geldnöten,  bis meine Mutter die rettende Lösung fand, oder glaubte gefunden zu haben, um aus den Sorgen heraus zu kommen. Sie wollte mich und meine jüngere Schwester Lara für ein paar Jahre in eine Stadt schicken, damit wir dort bei reichen Damen arbeiten konnten, um ihr monatlich unsere Verdienste zu schicken. Von Anfang an wollten meine Schwester und ich nicht weg, aber wir hatten keine Wahl. Wir mussten es wegen unserer Familie tun.

Alles begann, als George vor unserer Tür stand und uns beide abholen wollte. Er fuhr in einem zerbeulten Van vor, stieg aus und befahl uns, nicht sehr freundlich, einzusteigen. Unserer Mutter gab er schon einmal Geld, um zu bestätigen, dass er kein Betrüger war, was sich im Nachhinein als falsch herausgestellt hatte. Wir fuhren, soweit ich mich erinnern kann, etwa vier Stunden, bis wir endlich ankamen. Das merkwürdige war jedoch, dass wir vor einer großen Fabrikhalle hielten, die aus sehr vielen Schornsteinen grauen, stinkenden Qualm herauspustete und von außen ziemlich heruntergekommen aussah. Da mir und meiner Schwester das alles sehr komisch vorkam, fragten wir George, wo die Dame sei, für die wir arbeiten sollten. Dieser jedoch lachte und erwiderte nur, wir müssten jetzt für seinen Chef als Näherinnen arbeiten. Natürlich wehrten wir uns dagegen, schrien ihn an, uns sofort wieder nach Hause zu fahren, worauf er nur einen großen Stock nahm und uns beiden damit auf die Finger schlug, damit wir Gehorsamkeit lernten. Nach diesem

 

„Vorfall“, wie George es nannte, benahmen wir uns erst einmal. George führte uns direkt in die große Fabrik, er zeigte uns unsere Arbeitsplätze. Wir sollten T-Shirts für eine große Firma in Europa herstellen. Anschließend brachte er uns in einen großen Raum, der voll von kaputten Matratzen, die auf dem Boden lagen, war. Eine davon war für mich und meine Schwester Lara. Es stank in dem Raum sehr künstlich, nach Färbemitteln, wie ich später herausfand. An diesem Abend lernte ich auch meine erste und später auch beste Freundin Samira kennen. Wir schliefen nämlich und arbeiteten nebeneinander. In der ersten Nacht weinten Lara und ich viel, wir konnten nicht.

An unserem ersten Arbeitstag wurden Lara und ich direkt getrennt, weil Lara jünger war. Während Lara als Näherin arbeitete, sie musste Stofffetzten zu T-Shirts mit Faden und ein paar rostigen Nadeln per Hand zusammennähen, war meine Aufgabe die schon fertig genähten T-Shirts zu färben. Unser Tagesablauf war jeden Tag derselbe: um vier Uhr morgens wurden wir von George geweckt. Anschließend mussten wir direkt anfangen zu arbeiten; ohne Frühstück. Wir arbeiteten jeden Tag vormittags sieben Stunden.  Danach hatten wir 15 Minuten Pause. In dieser Pause bekamen wir auch unser einziges Essen am Tag: immer einen Teller kalte, zu kurz gekochte Bohnen mit einem harten Stück Brot und etwas Wasser. Anfangs weigerte ich mich dieses „Essen“ zu essen, bekam dafür von dem Küchenaufseher, dessen Namen ich bis heute nicht kenne, mit einer Art Peitsche Schläge auf den Rücken. Seitdem aß ich immer alles auf.  Nach dieser Pause mussten wir noch weitere fünf Stunden arbeiten, bis für uns die zweite und letzte Pause begann. Diese dauerte nur zehn Minuten. Nach der letzten Pause sollten wir noch zwei Stunden arbeiten, bis der Tag für uns endlich zu Ende ging. Und so ging das Tag für Tag. Wir arbeiteten immer schweigsam, da wir eine vorgegebene Anzahl an T-Shirts hatten, die bis zum „Feierabend“ fertig gefärbt sein mussten. Erreichten wir diese Zahl nicht, bekamen wir am folgenden Tag kein Mittagessen.

Anfangs glaubte ich noch daran, dass meine Mutter uns aus diesem Elend befreien würde. Mit der Zeit verstand ich jedoch, dass sie weder wusste, dass wir hier waren, noch, dass es uns schrecklich ging. Die Hoffnung auf Besserung erstarb mit der Zeit. Genauso wie meine Lebensfreude. Meine Schwester sah ich nur noch abends, wenn wir schlafen gingen. Wir durften aber nicht miteinander reden. Mit der Zeit ging es auch mir immer schlechter, ich hustete nur noch vor mich hin und ich arbeitete nur

noch wie ein Roboter. Jahr für Jahr. Es gab für mich nichts mehr als arbeiten. Ich arbeitete auf die Pausen hin. Und arbeitete. So wäre es weitergegangen. Bis meine Schwester Lara eines Abends, als wir dabei waren einzuschlafen, plötzlich meinen Namen flüsterte. Ihre Stimme war ganz rau und klang merkwürdig. Fast wie die Stimme meines Vaters, bevor er gestorben war. Ich bekam eine Gänsehaut. Sie flüsterte wieder meinen Namen und sagte, sie könnte nicht mehr. Ich fing an zu weinen. Sie zeigte mir eine schreckliche Verletzung an ihrem Rücken. Der Aufseher hatte sie mit einem verrosteten Stab geschlagen. Die Wunde hatte sich infiziert. Ich weinte noch mehr und sagte, dass alles nicht schlimm sei. Sie jedoch schloss nur die Augen und war dann still. Für immer. Ich weinte und weinte und versuchte immer wieder sie anzusprechen, sie aufzuwecken, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie tot war. Das war der schrecklichste Tag in meinem Leben.

Ein paar Tage arbeitete ich noch. Irgendwann wollte ich nicht mehr. Ich erzählte Samira von meinem Plan abzuhauen. Diese jedoch war nicht damit einverstanden. Ich konnte sie nur überzeugen mir bei meiner Flucht zu helfen.

Am Abend eines langen Tages, als wir alle schon schlafen sollten, schlich sich Samira zum Aufseher und bat ihn mit in unsere Toilette zu kommen, da sie angeblich einen Einbrecher gesehen hatte. Das war meine Gelegenheit zu fliehen, ich rannte zum Ausgang, öffnete die Tür und rannte über das Gelände der Fabrik so schnell ich konnte in Richtung der Lichter der Stadt. Ich war frei. Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich gewesen. Ich rannte und rannte. Ich war glücklich. Aber nur kurze Zeit. Als ich nämlich in der Stadt ankam, bemerkte ich, dass ich nicht wusste, wo ich war und wohin ich jetzt gehen sollte. Tagelang irrte ich durch die Straßen, ernährte mich vom Abfall anderer und schlief unter einer Brücke. Wahrscheinlich wäre ich irgendwann gestorben oder entführt worden, wenn mich nicht ein Mann von einer Hilfsorganisation für auf der Straße lebende Mädchen gefunden hätte. Diese Organisation hat mich gerettet. Nun setzte ich mich ebenfalls für diese Organisation ein. Es soll mit Kindern fair umgegangen werden. Ich bin ein Beispiel dafür, was unfair ist. Kinder dafür schuften zulassen, ihr Leben und ihre Körper zu zerstören, dafür dass andere günstige Klamotten tragen können. Das ist nicht gerecht. Helft mir dabei, diese Kinder zu unterstützen!“

Ich halte den Atem an und das Publikum fängt an zu applaudieren und hört gar nicht mehr auf. Ich bin glücklich, wieder einmal Menschen gezeigt zu haben, dass wir nur gemeinsam die Welt ein Stückchen fairer machen können.   (14 Jahre)