Unbekannt
Sie nennen mich „Unbekannt“. Nicht ein einziges Mal hat man mich hier mit meinem richtigen Namen angesprochen. Mein Blick weicht von der Nadel in meinem Arm auf die Tür. „In diesem Raum sind nun Blutkrebs, Lungenentzündung, Unbekannt und Magengeschwür anzutreffen“. Es ist das vierte Mal, dass sie unser Zimmer betreten und dies sagen. Einmal pro Woche – oder pro Monat.
Ich habe mittlerweile das Zeitgefühl verloren. Dieses Mal ist es jedoch anders. Sie gehen nicht einfach wieder heraus, sondern treten an das Bett des kleinen Mädchens neben mir. Seit sie hier ist, hat sie nur ein einziges Wort geredet. Sie klingt wie ein 60-jähriger Kettenraucher, Lungenentzündung wahrscheinlich. „Du, mit den Magenproblemen, du wirst verlegt. In ein anderes Krankenhaus.“
Sie antwortet nicht, sondern hält lediglich ihr völlig zerfetztes Kuscheltier im Arm. Sie ist vermutlich arm, wie jeder von uns. Ich sehe zu dem winzigen Fenster links von mir – so langsam verstehe ich. Sanfte Sonnenstrahlen scheinen durch jenes kaputte Glas, doch auch dieser Lichtblick schenkt uns keine Hoffnung. Ich spüre die Augen aller Menschen in diesem Raum auf mir. Der kleinste dieser Männer schaut auf sein Klemmbrett und stößt einen lauten Seufzer aus. Er sieht mich an, erzwingt ein bescheidenes Lächeln und verschwindet wieder. Nur noch eine Stunde, schätze ich. Der dröhnende Lärm hupender Autos lässt mich nachdenken. Musik. Wie lange habe ich keine Musik mehr gehört. Das Klopfen an der Scheibe unseres Zimmers reißt mich aus meinen Gedanken. Eine junge Frau. Ihre glasigen Augen lassen sie krank aussehen. Aus ihrer Jackentasche schaut der Zipfel eines zerknäulten Taschentuchs hervor. Sie hatte zuvor mit den Ärzten gesprochen.
Die Wände sind dünn. Ich höre jedes Gespräch, das sich vor unserer Tür ereignet. Sie lächelt, wenn auch nur ein wenig. Neben ihr steht der Chefarzt. Er nickt mir zu und legt dann seine Hand auf die Türklinke. Das war keine Stunde. Ich bin nicht bereit. Das Kinderheim in Sandau hat wegen finanziellen Schwierigkeiten geschlossen. Ebenso das Tierheim. Ich betrachte die Rückseite der Zigarettenpackung in meiner Handtasche. Dazu ist keine Zeit mehr. Die Tür öffnet sich und dieselben Männer von vorhin betreten den Raum. Ich höre keine Schritte.
Ich höre nur ein überaus lautes Pochen. Ich spüre es in meinem ganzen Körper. Sie stehen vor mir. Ich versuche, etwas zu sagen, aber die Worte verbleiben nur in meinen Gedanken. Plötzlich ertönt ein Geräusch, eine Stimme. „Wir haben einige Tests durchgeführt“.
Er reicht mir meine Akte. Es passiert erneut. Mein Kopf beginnt zu pochen und die winzige Schrift auf dem Papier vor mir entwickelt sich zu einem einzigen Farbgemisch aus Schwarz und Weiß. Der Versuch, den Gesichtsausdruck des Arztes zu deuten scheitert kläglich.
Ich blicke in den Spiegel hinter ihm.
Auch mein eigenes Gesicht ist nicht zu erkennen.
Ich bin Unbekannt.