Angst
von
Tim David Staab
Angst! Panische Angst, war das erste was mir durch den Kopf schoss, als plötzlich ohrenbetäubende Sirenen den Lärm der ratternden Nähmaschinen und zischenden Kesseln übertönten. Ich blinzelte, heftig. Meine Augen wollten einfach nicht scharf stellen, alles war verschwommen. Woran lag das nur? Ich war viel zu benebelt, um den Grund dafür ausmachen zu können, denn mein Gehirn nahm nur noch Bruchteile der Umgebung wahr. Frauen und Männer rannten planlos durch die Hallen der Fabrik. Menschen überall.
Das Heulen des Alarms drang durch die riesigen Räume und durch meine Ohren, es war wie ein Betäubungsmittel. Es drang durch mich hindurch, in mein Gehirn und legte dort alle meine Sinne lahm. Vielleicht war das gut in diesem Moment. Hin und wieder schnappte ich ein paar panische verzweifelte Schreie auf. Doch sie trugen auch den lauen Wind der Hilflosigkeit mit sich. Auf einmal hörte ich eine Stimme in meinem linken Ohr.
Verschwommen und hohl. Ich konnte sie nicht zuordnen, aber sie gab alles und mehr, um mich meinem Wachkoma zu entreißen, damit wir so schnell wie möglich hier heraus kämen, heraus aus diesem Gefängnis. Dem Gefängnis der Flammen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass es brannte, lichterloh und dass ich mittendrin war in den Flammen, die züngelten und tobten, rot und heiß. Und ich wusste, ich musste da irgendwie raus. Doch es war vergebens. Ich war zu schwach, um mich zu bewegen und mein gedanklicher Zustand war zu instabil für eine klare durchdachte Handlung, also zerrte der Körper, der zu der Stimme an meinem Ohr gehörte, mich an meinem tauben Arm von dem steinharten Holzstuhl runter, an dem ich bis vor fünf Minuten noch schicke Sportschuhe auf das Fließband gelegt hatte. Mir wurde schwindlig und schlecht, ich taumelte hinter dem Körper her, wie im Rauschzustand, doch es schien aussichtslos die riesigen Hallen zu verlassen.
In meinem Kopf dröhnte es und meine Lunge brannte. Es war so voll und so laut. Überall irrten schreiend und kreischend andere Frauen, Männer, Mädchen und Jungen durch die Räume und der stickige und kratzige Rauch legte langsam meinen kompletten Kreislauf lahm. Meinen Augen fehlten jegliche Kontraste und Farben und ich nahm schließlich nur noch Umrisse wahr. Plötzlich blieben wir stehen. Die Gestalt, die mich rettete, beugte sich vor mich und versuchte mir irgendetwas mitzuteilen, doch ich war zu benommen, um zuzuhören. Auf einmal wurde mir klar, dass die Gestalt meine Mutter war. Doch unser Überlebenskampf musste weitergehen. Aber das war schwer, denn dies hier war eine Textilfabrik im Norden Chinas. Es gab keine Notausgänge. Alle Türen waren verstopft oder versperrt.
Nach einer halben Ewigkeit des Umherirrens durch die Weiten der Fabrik schien die Lage aussichtslos. Der viele Rauch und die einstürzenden Gebäudeteile versperrten uns immer mehr den Weg. Ich bekam Angst. So große panische Angst, wie zuletzt, als ich bemerkte, dass ich allmählich auch diesen chronischen Husten bekam, denselben wie meine Mutter und beinahe alle Fabrikarbeiter. Ich hustete und rannte weiter. Links lagen eiserne Brücken und rechts ging es mehrere Meter in die Tiefe, weil der Boden unter den extremen Bedingungen einfach wie ein Streichholz durchbrach.
Wir stolperten bereits über die ersten Opfer des Feuerteufels, der in den Hallen der riesigen Textilfabrik wütete. Mir wurde schleichend bewusst, dass ich genauso jetzt da liegen könnte, doch ich hatte den großen Vorteil, dass ich noch am Leben war! Ich lebte.
Ich hatte noch eine Chance! Dieser Gedanke brachte mir so viel Kraft, dass ich mich schüttelte und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Meine Wahrnehmung wurde besser, es wurde klarer um mich herum, die Welt begann wieder zu leben. Ich konnte langsam immer schärfer sehen und meine Ohren endlich Stimmen aus dem unerträglichen Lärm der Sirenen filtern. Ich erinnerte mich an einen Gebäudeplan, der mir vor ein paar Tagen zufällig in die Hand fiel. Ein Wink des Schicksals wohl. Ich versuchte mich zu erinnern. Ich musste mich erinnern. "Wir müssen rechts!" rief ich meiner Mutter einer plötzlichen Eingebung nach zu. Und tatsächlich. Wir erreichten das Freie. Wir verließen die Flammen und schnappten nach frischer Luft. Nachdem wir dem Tod mehr als nur tief in die Augen gesehen hatten, hatten wir wirklich glückselig einen Ausgang gefunden, der zurück ins Freie führte.
Somit konnten wir unserem schlechten Schicksal gerade noch entfliehen. Draußen fanden wir überglücklich unsere Familie. Wir pressten unsere Körper mit aller Kraft aneinander. Mein Vater und meine fünf Brüder arbeiteten auf der nahe gelegenen Reisplantage. Sie hatten den Brand bemerkt, und waren so schnell wie möglich zu unserer Fabrik gerannt. Mir wurde klar, dass sie damit ihre Jobs und die par Yen, die sie pro Tag verdienten aufs Spiel setzten, weil sie ihrer Arbeit fern blieben. Mir wurde klar, dass sie unser Essen aufs Spiel setzten, unsere kleine Wohnung, unser bescheidenes Leben. Und mir wurde klar, dass sie uns liebten.
Dass wir arm waren, ja dass wir zu den ärmsten Menschen der eine Milliarde Einwohner Chinas gehörten und dass ich, sollte ich jemals alt werden, ebenfalls arm sein würde und meine Kinder und Kindeskinder auch. Aber dass wir trotzdem fähig waren zu lieben. Trotz unserer Geldsorgen und unseren schlechten Lebensumstände waren wir eine Familie, die zusammenhielt und sich liebte.
Und wie mir da dieser schreckliche Brandgeruch aus der Fabrik in die Nase stieg, zusammen mit der ganzen Chemie, die wahrscheinlich sowieso schon meine Lunge verätzt hatte, in all den Jahren, die ich nun schon in der Fabrik arbeitete, und wie mein Vater mich umarmte und meine Mutter mich drückte und meine Brüder mich küssten, da wurde mir warm, ich wurde glücklich. Auch wenn diese Welt unfair war, wenn ich meine Arbeit verloren hatte und wir arm waren, dann waren da immer noch diese Menschen, die ich liebte und die mich liebten.
Und das war ein guter Ausgleich, fand ich.
(14 Jahre)