Mensch sein

 

Mensch sein. Ein Thema, das uns alle betrifft, und gerade in den letzten Wochen nicht spurlos an uns vorbeigegangen ist. Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben, weil…ja, warum eigentlich? Weil sie Dinge sagen, die der Regierung nicht gefallen? Weil sie eine andere Religion haben als die Regierung es erwünscht? Weil sie Angst haben müssen, Angst davor am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen, aufgrund einer Bombe, die sie zerfetzt? Es gibt Menschen auf dieser Welt, die müssen diese Ängste täglich ertragen. Und wenn diese Menschen, getrieben von Angst, getrieben vom Hass anderer, nach Deutschland kommen, werden sie von vielen Menschen mit noch mehr Hass empfangen. Stellt euch ein Mädchen namens Lena vor. Lena ist das mutigste Mädchen, das ich kenne. Sie hat im Bürgerkrieg ihre Eltern verloren.

Ihr Zuhause ist von einer Bombe zerstört worden, da musste sie flüchten. Sie weiß nicht, wohin. Weiß nicht, ob sie jemals irgendwo ankommen wird. Und wenn sie jemals irgendwo ankommen wird, weiß sie nicht einmal ob sie dort bleiben darf, ob sie dort geduldet wird. Sie macht sich trotzdem auf den Weg in eine ungewisse Zukunft, denn das alles ist besser als da zu bleiben. Und sie beginnt zu laufen, bis sie ihre Füße nicht mehr spürt. Sie ist erschöpft, doch sie läuft weiter, bis sie zu einem Hafen kommt. Sie entdeckt ein Schiff, je näher sie kommt desto kleiner wird es. Es wird kleiner und kleiner, wird zu einem Schiffchen, wird zu einem Boot. Und als sie davor steht, ist es plötzlich nur noch ein Schlauchboot. Der Ozean, der vor ihr liegt, unruhig wie nie zuvor, schlägt  hohe Wellen, doch sie sah die Menschen um das Schlauchboot herumstehen, Menschen wie sie. Menschen, die auch dabei waren zu flüchten. Sie sah Frauen, Kinder, Babys, Mütter, Mädchen, Mädchen wie sie, Jungen, Männer. Sie begannen in das Schlauchboot einzusteigen, wie auch Lena.

Sie wollte  nur weg von dort. Als alle Menschen mehr oder weniger Platz gefunden hatten, begann das Schlauchboot, das für höchstens zehn Leute gedacht war, mit etwa 30 Menschen loszufahren. Schon nach den ersten Metern befand sich ein gefühlter Liter Salzwasser in Lenas Lunge. Und schnell begann sie zu frieren.  Die Fahrt dauerte sechs volle Tage. Sechs. Und die vollen sechs Tage aß sie nichts. Wie auch? Die letzten Meter, wenn nicht Kilometer vor der Küste musste sie schwimmen. Sie kam in einem fremden Land an, doch dort konnte sie nicht bleiben. Sie musste weiter. Sie lief, sie rannte, sie versuchte sich von Menschen, die wir hier Schlepper nennen, mitnehmen zu lassen, doch diese verlangten sehr viel Geld. Geld, das sie nicht hatte. Also lief sie weiter bis sie ihre Füße nicht mehr spürte. Und selbst danach lief sie weiter. Bis sie kurz vor  dem Zusammenbruch stand. Und das alles nur, weil sie in ihrer Heimat nicht der Mensch sein durfte, der sie war.

Dann machte sie eine Fünf Minuten-Pause, dann lief sie wieder weiter. Solange, bis sie ankam. In einem Land, in dem sie vorerst bleiben konnte. Sie kam in eine Unterkunft, in der sie seit langem mit Menschen redete. Mit Menschen, die ihre Sprache sprachen. Wenn das auch nicht die Mehrheit der Menschen dort war. Sie war wieder mit Menschen zusammen, die sie verstanden, verstanden was sie durchgemacht hatte. Dann, als sie eines Tages einen Brief bekam, fiel ihr ein Stein in der Größe eines unbeschreiblich großen Felsens vom Herzen. Darin stand, dass sie bleiben durfte. Von da an ging alles nur noch bergauf. Sie kam in eine Pflegefamilie. Sie durfte zur Schule gehen.

Und dann eines Tages begann sie zu lächeln, das Lächeln wurde zu einem Grinsen, das Grinsen wurde zu einem lauthalsen Lachen. Einem Lachen vor Glück. Ja, vor Glück. Seit unglaublich langer Zeit war sie wieder glücklich, und das nur, weil sie mit Liebe empfangen wurde und nicht mit Hass. Und auch, weil sie endlich wieder Mensch sein durfte. Der Mensch, der sie ist.