Aschermittwoch

 

 

 

Es war Aschermittwoch und Neil saß neben mir auf dem Dach des blauen Hauses und rauchte. Es war dumm von uns dort zu sitzen, völlig schutzlos und gut sichtbar und das wussten wir. Aber wir taten es trotzdem, weil wir Dummköpfe waren, dumm und leichtsinnig. Wir hatten nichts bei uns außer unseren Waffen, Neil einen Aschenbecher und Zigaretten und ich eine Flasche mit unidentifizierbarem Alkohol, der alles andere als gesundheitsfördernd roch. Ich wusste nicht warum Neil einen Aschenbecher dabei hatte, wo doch die halbe Stadt in Schutt und Asche lag.

 

Aber der sonst so unordentliche Neil schleppte ihn immer mit sich herum. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt ihm ein faltbares Exemplar zu schenken, das ich in einem kleinen Laden im Norden der Stadt gesehen hatte. Doch als ich das nächste Mal dort war, hatten sie den Laden mitsamt der ganzen Straße zerbombt und die Kirche am Straßenende war das einzige Gebäude, das noch stand. Ich erschoss einen Mann anstatt den Aschenbecher zu kaufen. Er war gerade dabei gewesen den Altarschmuck aus der Kirche zu stehlen. Ich versuchte einen Moment lang Reue zu empfinden. Früher hätte ich ihn nicht erschossen. Aber Krieg macht ein wenig unsensibel für solche Dinge, ein klein wenig. Ich brachte den Schmuck zurück in die Kirche und betete. Meine Mutter hatte mich früh gelehrt zu beten und zu glauben.

 

„Jack", ihre Stimme war weich an jenem Abend, weil sie Wein getrunken hatte. "Nenn mir das wichtigste Gebot, eines der zehn.“ Sie lächelte. Ich sah sie damals an, mit großen, runden Augen und wollte nur, dass sie weiter sprach und ich ihrer weichen, sanften Stimme lauschen konnte bis meine Augen zufielen. „Du sollst nicht töten Jack, das fünfte Gebot.“ Sie strich mir über das Haar und löschte das Licht in meinem Zimmer. Damals war ich fünf Jahre alt. Ich kenne inzwischen alle Gebote und habe lange nach ihnen gelebt. Doch Krieg verändert Menschen und inzwischen kann ich sie nicht mehr befolgen. Aber ich denke an sie, wenn ich dagegen verstoße. Neil schnippte mit seinen Fingern vor meinem Gesicht herum. Ich sah ihn an, „Was ist?“ „Ich finde es gruselig wenn du so dasitzt, dann siehst du aus wie ein Zombie.“ Er blies mir Zigarettenrauch ins Gesicht und lachte rau auf. Wir sahen uns einen Moment an, bevor ich den Blick abwandte und vom Dach hinunter auf die Straße sah.

 

Ich hob meine Flasche an die Lippen und beobachtete, verzerrt durch das Flaschenglas, eine Katze unten auf der Straße. Das Getränk hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Ich gab Neil die Flasche und nahm im Gegenzug seine Zigarette. Nach einigen Augenblicken tauschten wir wieder. Ein Schluck, ein Zug und wieder ein Schluck. So hielten wir es eine ganze Weile. Die Katze hatte sich inzwischen auf einer Mülltonne niedergelassen und putzte sich. Es waren nicht mehr viele Katzen in der Gegend. Das Geschützfeuer machte auch sie krank. Sie flohen oder starben in dieser Zeit, wie die Menschen. Der Himmel war blau an jenem Tag, beinahe so blau wie das Haus auf dessen Dach wir saßen. Es war einer der ersten schönen Tage des Jahres und das einzige was fehlte waren die Kondenzstreifen am Himmel. Flugzeuge umflogen das Kriegsgebiet weiträumig, was nur klug war, in Anbetracht der Tatsache, dass bereits zwei von ihnen auf dem Boden eben dieses Kriegsgebietes zerschellt waren.

 

Ich blickte noch immer verträumt in den Himmel, als Neil mit einem seltsam verschluckten Laut hinter mir zusammensank, noch bevor ich den Schuss hörte. Ich kauerte mich instinktiv zusammen, „Kopf runter, Deckung suchen!“ Meine Gedanken begannen zu rasen und mein Herz holperte, als würde ich über eine der malträtierten Straßen unter mir fahren. Ich hatte schon viele solcher Situationen erlebt. Und doch bebte ich vor Angst. Ich blieb ein paar Minuten zusammengekauert sitzen und sah meinem eigenen Schatten beim Zittern zu. Als ich lange genug dagesessen hatte und mir fast sicher war, dass kein Angreifer mehr in der Nähe war, wandte ich mich zu Neil um. Die Kugel hatte ihn im Rücken getroffen und er war seitlich weggekippt, sodass ich sowohl die üble Schusswunde auf seinem Rücken, als auch einen Teil seines Gesichts sehen konnte, das dem Himmel zugewandt war. Starr, die Haut beinahe so blass und dünn wie Pergamentpapier. Ich kroch um ihn herum bis ich direkt neben seinem Kopf saß und sah ihm in die Augen. Sie starrten zurück, auch wenn Neil darin längst erloschen war. Die Katze hatte ihren Posten auf der Mülltonne verlassen, war hinauf auf’s Dach gesprungen und kam nun neugierig näher. Ihr aufgerichteter Schwanz schien ein stummes Fragezeichen zu formen. Ich strich ihr über das Fell als sie nah genug bei mir war.

 

Ich musste hier weg, fort von diesem Dach und ich würde Neil nicht mitnehmen können. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er sollte nicht hier liegen bleiben, so tot und blass in seinem eigenen Blut. Ich sah in sein leeres Gesicht, ließ meinen Blick über seine kantigen Wangenknochen, seine markante Nase und seine schön geschwungenen Lippen gleiten, die viel zu fein und zart für die Lippen eines Mannes waren. Er war ein guter Mensch gewesen, auch wenn Soldaten ja eigentlich immer böse Menschen sind. Neben Neil stand noch immer der Aschenbecher, während der Zigarettenstummel erloschen daneben lag. Ich tippte den Finger in den Becher. Die Asche war noch immer warm. Ich hob meine graue Fingerkuppe und drehte Neil ein wenig, sodass er nun ganz auf dem Rücken lag und weiterhin blind und tot in den Himmel starrte.

 

Ich konnte seine Wunde nun nicht mir sehen und darüber war ich froh. Aber das Blut sickerte weiter unter seinem Körper hervor und färbte das Dach rot. Ich beugte mich über Neils Gesicht und zeichnete ein Kreuz aus Zigarettenasche auf seine Stirn. Die Katze beobachtete mich aufmerksam. Das schwarze Kreuz hob sich scharf von seiner weißen Stirn ab. Ich hatte die Worte unzählige Male gehört, doch diesmal war ich derjenige, der sie sprach. „Bedenke, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst!“ Beinahe konnte ich selbst die vielen Kreuze spüren, die man mir über die Jahre auf die Stirn gezeichnet hatte. Aschermittwoch.

 

 

Die Katze sah mich an, ein wenig vorwurfsvoll wie mir schien. Als wolle sie wissen wie ich auf die Idee kam mit Asche auf der Stirn eines Toten zu zeichnen. Ihre Augen fixierten mich, hielten mich gefangen. Mit meinem Blick immer noch bei der Katze sah ich es nur aus dem Augenwinkel, trügerisch kurz und in der Sonne kaum zusehen. Doch ich hatte es schon zu oft erlebt, zu oft selbst ausgelöst. Ein Schuss. Das aufblitzende Mündungsfeuer warnte mich keine Sekunde zu spät.

 

Ich warf mich zur Seite und während ich fiel sah ich die Katze auf dem Dach stehen, die Pfoten rot vom Blut eines toten Mannes. Einen Augenblick lang kreuzten sich unsere Blicke und was ich in ihren Augen sah erstaunte mich. Verständnis. Sie wusste was passieren würde. Ich landete hart auf meiner Schulter. Die Katze wurde fortgeschleudert von der Wucht des Aufpralls, als die Kugel sich in ihr Fleisch grub. Farben explodierten in meinem Kopf als dieser hart auf die Dachkante schlug und ich verlor das Bewusstsein.

 

 

Der Himmel war blau, so blau. Ich richtete mich auf und schwankte über das Dach, vorbei an Neil, auf den Körper der Katze zu. Ich erwartete, ja hoffte beinahe auf den Knall eines weiteren Schusses, doch es blieb ruhig. Als ich bei dem blutig-roten Fellbündel ankam, das einmal die Katze gewesen war, ließ ich mich auf die Knie sinken. Hätte man den hinteren Teil ihres Körpers außer Acht gelassen, man hätte beinahe denken können, dass sie nur schliefe. Doch sie war tot, wie Neil, erschossen mit einer Kugel die mir gegolten hatte. Ich hob sie hoch und bettete ihren Körper in meinen Schoß, das Köpfchen zum blauen Himmel gewandt. Ich versuchte das Blut aus ihrem Fell zu wischen, sortierte ihre zarten Pfoten in meinem Schoß und begann zu weinen.