Abendsonne

 

September 2039

 

Kriegsjahr 2

 

Unbenannter Schützengraben irgendwo vor Deutschland

 

Noch 10 Minuten. Einfach nur durchhalten. Nicht daran denken, was jede Sekunde passieren könnte. Ich schlage die Augen wieder auf. Meine kurze Verschnaufpause ist vorbei. Vor mir sehe ich wieder nur Stacheldraht, halbschiefe Balken und verbrannte Bäume. Nein, halt da ist noch etwas! Ein kleiner grauer Punkt, hinter einer Stahlwand auf der feindlichen Seite. Durchhalten. Noch 9 Minuten.

 

Ich will nicht noch ein Leben nehmen. Der Punkt kommt näher und wird deutlicher. Ein Läufer! Also gut, aber nur aufhalten, ich bin kein Schlächter. Ich ziehe meine Neudeutsche-Werk aus dem Rückenholster und lege an. Durchhalten. Vielleicht muss ich gar nicht schießen. Vielleicht … Etwas Glänzendes fliegt durch die Luft. Gut, gut. „Dreimaliger Gewinner des Schützenpreises, dann zeig mal was du kannst!“, denke ich, ziehe das Gewehr hoch und drücke zweimal ab. Die Handgranate explodiert in der Luft und der Soldat stürzt zu Boden. Ich sauge zischen Luft ein. Noch 7 Minuten.

 

Durchhalten. Wenn dem Allianz-Soldaten nicht bald geholfen wird, verblutet er. Die vorherige Stille wird von seinen Schmerzenslauten immer wieder unterbrochen. Noch 5 Minuten, bis Verstärkung eintrifft. Außer mir ist keiner mehr übrig. Ich könnte es schaffen. Mein MediKit könnte ihn retten. Ich müsste kein Schurke und Mörder sein. Ich könnte ein Held sein. Ein Anruf trifft ein. Es ist Gordon, der Nachhutsführer. „Unteroffizier Buchenwald! Wir ziehen uns zurück! Die Verstärkung ist ausgeschaltet worden. Wiederhohle: Sämtliche Verstärkung ist ausgeschaltet worden! Ziehen sie sich zurück! Kssch Krk.“ Ich schalte ihn ab.

 

Etwas zerbricht in mir. Alle tot. Ausradiert. Nicht zurückzuholen. Es war sinnlos noch zu kämpfen. Sinnlos noch zu töten. Die Allianz würde anrücken, über die reglosen Körper ihrer Kameraden steigen und die Front weiter voranschieben. Und plötzlich habe ich eine Idee. Nur noch einen Gedanken. Ich könnte jemanden retten. Ich. Könnte. Das. Ich, ein unbedeutender Krieger, ein Unbenannter. Ich laufe los.

 

Alle Vorsicht, alle Vorschriften, alle Ängste schließe ich in mir ein, verpacke sie in Schaumstoff und Stahl und denke nicht mehr daran. Ich renne bis meine Lungen zu bersten drohen. Springe über Barrikaden und ducke mich durch Tunnel. Irgendwann beginne ich zu rufen und zu brüllen, doch niemand antwortet. Als ich um ein paar Ecken biege höre ich etwas scheppern. Ich drehe mich zur Seite und sehe einen Grünhelm der Allianz auf mich zu kriechen. Er sieht erschreckend agil aus, doch seine Beine sind von den Knien abwärts schrecklich zerfetzt. Blut tropft an ihnen herab und sein rechter Arm ist auf eine Weise verdreht, die man niemandem wünscht. Seine Augen sind klar und er spricht einen Namen: „Klara“ Danach spuckt er Blut. Völlig fassungslos ziehe ich meine Pistole und gebe ihm den Gnadenschuss. Sein Leben ist zu Ende. Zerrüttet und nervlich zerstört stolpere ich weiter. Meine Gedanken fühlen sich primitiv an. Den Läufer retten, den ich verwundete und dann von ihrer Nachhut getötet werden. Mehr ist da nicht.

 

Ich haste durch einen dunklen Tunnel und plötzlich höre ich leiser werdende Schmerzenzlaute. Ein Klagelied an das Leiden eines Kämpfers. Ich biege um eine Ecke und sehe mein nun einziges Lebensziel. Den Läufer. Er ist bewusstlos, atmet aber noch flach. Ich eile zu ihm und untersuche seinen erstaunlich zierlichen Körper. Meine Kugel hat ihn perfekt in den Oberschenkel getroffen und ist im zersplitterten Knochen stecken geblieben. Auch das noch! Gut, das würde schwierig werden. Von einer seltsamen Ruhe erfüllt nehme ich meine Pistole und halte sie genau über die Wunde. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche nicht zu wackeln, dann drücke ich ab. Die teflonbeschichtete Kugel stößt gegen die Scharfschützenpatrone und befördert beide aus der Wunde. In einem Normalfall ist es das Dümmste, was man tun kann den Fremdkörper zu entfernen, doch die moderne Medizin funktioniert anders. Unser Trupp hatte als einer der Ersten die Möglichkeit die neuartigen Heilmetoden auszuprobieren. Ich öffne mein MediKit, ziehe eine Spritze heraus und injiziere den Inhalt direkt oberhalb der Wunde. Das neuste Mittel besteht aus Nanoorganismen, die automatisch angegriffene Zellen suchen und sie reproduzieren. Wäre die Kugel noch in der Wunde gewesen hätten sich ihre Zellen ebenfalls vervielfacht. So. Das war‘s. Mehr kann ich nicht tun.

 

 Erschöpft und merkwürdig leer sinke ich zu Boden. Jetzt heißt es Bangen und Hoffen. Ich blicke hoch zum Himmel, an dem gerade die Sonne untergeht. Es sieht wunderschön friedlich aus. Zehn Minuten später zuckt der Soldat urplötzlich. Er reißt sich den Helm vom Kopf und saugt gierig Luft ein. Lange rote Haare fallen über seine Schultern und er dreht sich zu mir um.

 

Eine Frau. Engelsgleich geschwungene Lippen, grüne Augen und eine Stubsnase. Ich bin viel zu erschöpft um erstaunt zu sein, trotzdem frage ich: „Wer bist du?“ Sie wirft den Kopf zurück und lacht. Sie lacht! Warum? „Operation Blattschuss, Alice Konvoi. Ich dachte es sei vorbei mit mir“, sie nickt mir zu, „Danke, dass ich dir begegnen durfte“ Sie zieht einen uralten silbernen Revolver und zielt auf mich. „Halt! Nein, nein, nein…“ Alice drückt zweimal ab.

 

Ich bin unversehrt, doch hinter mir taumeln zwei Grünhelme, die sich angeschlichen hatten zu Boden. „Wäre doch schade, wenn das jetzt zu Ende ginge.“, sagte Alice und lachte noch einmal. Hinter ihrem hübschen Gesicht steht die flackernde Abendsonne.          

 

14 Jahre