„Menschsein“

 

Piep… Piep… Piep…

 

Das Geräusch des EKGs ist gleichmäßig. Ein Weckruf, ein Alarm, der mich daran hindert, mich der angenehmen Dunkelheit hinzugeben. Wie ein Messer scheint es die Stille zu zerschneiden, in die ich zuvor gehüllt gewesen bin. Mir entfährt ein gequälter Laut. Ich will nicht aufwachen. Nicht zurück in den Alltag, zu dem sich immer und immer wieder abspielenden Lauf der Dinge. Das Piepen wird schneller. Eindringlicher. Lauter. Bis es schließlich zu einem einzigen Heulen anschwillt. Ich höre wieder das Quietschen der Autoreifen, die zahlreichen Schreie…

 

Und auf einmal spüre ich ihn wieder. Den alles betäubenden Schmerz. Er ist wieder da, stärker, als alles, was ich jemals empfunden habe. Mein Körper, welchen ich zuvor nicht ausmachen konnte, beginnt sich anzufühlen, als hätte mich jemand kopfüber in ein Becken voller Eiswasser gestoßen. Verzweifelt versuche ich zu strampeln, mich zu bewegen… Meine Arme, in deren Venen Schläuche stecken, bleiben jedoch wie leblos neben meinem Körper liegen. Nicht, dass ich es sehen könnte. Ich bin unfähig, meine Augen zu öffnen. Alles um mich herum ist schwarz – passend zu der kalten Leere, welche mein Inneres erfüllt. Es heißt, dass der Körper sich bis zum letzten Moment mit aller Kraft gegen das Ertrinken wehrt - selbst wenn es aussichtslos ist. Zwar befinde ich mich nicht wirklich in der lähmenden Kälte des Wassers, sondern in einem einer Paralyse ähnlichen Schockzustand … Trotzdem kämpft alles in mir gegen den Drang an, endlich nach Luft zu schnappen und meine schmerzenden Gliedmaßen mit dem Sauerstoff zu versorgen, welchen sie so dringend benötigen. Während in mir dieser Kampf tobt, welchen der Schmerz und die Verzweiflung gewinnen werden, versucht mein Gehirn, die Erinnerungen zu verdrängen. Die Erinnerungen, welche noch viel mehr wehtun, als jede Verletzung, welche der zu langsam bremsende Wagen mir zugefügt hat.

 

Piep… Piep… Piep…

 

Die Erinnerung an den gestrigen Morgen durchfährt mich. Beinahe aggressiv ist meine Hand auf den Knopf des auf meinem Nachttisch stehenden Geräts geknallt, welches dazu dient, junge Menschen wie mich jeden Tag aufs Neue zu plagen. Eigentlich bin ich ein recht fröhlicher Mensch. Dennoch versteht niemand die vielen kleinen Dinge, die mich mit Freude erfüllen, noch habe ich jemanden, mit dem ich diese Freude teilen könnte. Und von Tag zu Tag bleibt immer weniger davon übrig. Kaum eine der Beschäftigungen, welchen ich früher mit Eifer nachgegangen bin, interessiert mich noch. Und niemand versteht die schwere Erschöpfung, welche sich Tag für Tag in mir ausbreitet. Alles andere ausblendet. Jede mögliche Motivation.

 

Wie jeden Morgen habe ich meine Decke zurückgeschlagen und bin ins Bad gestapft. Mein Spiegelbild empfängt mich dort. Natürlich sind meine eisblauen Augen von dunklen Ringen untermalt, welche wie üblich unter der dünnen Haut hervorschimmern und jedem Betrachter sofort deutlich machen, wie viele schlaflose Nächte ich durchleide. Ich erschaudere, aufgrund der vielen Gedanken, die in meinem Kopf herum schwirren. Mich Tag für Tag plagen. Nacht für Nacht plagen. Nichts was ich tue, hilft mir dabei, sie loszuwerden. Oder den Stress und den Druck, unter dem ich ununterbrochen stehe. Erzeugt durch meine Eltern, Lehrer, Mitschüler und sogar durch die wenigen Freunde, die ich noch besitze. Ich habe Angst. Einerseits weiß ich, dass ich so nicht mehr lange weitermachen kann. Aber auf der anderen Seite will ich mich nicht gegen die Normalität meines Alltags stellen, an den ich gewohnt bin. Mich sträubend beginne ich damit, mir mein Gesicht zu waschen. Das eiskalte Wasser ist wie ein Weckruf. Ebenso wie das Piepen, das meine Ohren erneut betäubt und mich aus der ersten Erinnerung in die nächste katapultiert.

 

Piep… Piep… Piep…

 

Ich stehe am Bürgersteig und wünsche mir, ich könnte mich sofort in mein Zimmer teleportieren. In das ich mich zurückziehen könnte, wie in eine eigenen kleine Welt. In der nur ich existiere, gefangen mit meinen Gedanken. Wie in einem Käfig. Dann müsste ich nicht mehr an den vielen Menschen vorbeilaufen, welche die Straßen füllen. Menschen mit eigenen Problemen, vermutlich deutlich größeren als den meinen. Menschen, die, anders als ich, mit ihren Emotionen umgehen können, anstatt sich von ihnen überwältigen und leiten zu lassen. Menschen, die nicht über alles nachdenken. Mein Seufzer ist wie ein verzweifeltes Schnappen nach Luft. Wie das des Ertrinkenden, nachdem er aufgibt. Mein Zimmer bietet mir häufig Schutz und die beruhigende Isolation, wenn ich mich missverstanden fühle. Und ich fühle mich oft missverstanden. Von meinen Mitschülern, hauptsächlich. Sie haben sich schon vom ersten Tag an von mir abgewandt. Sie finden mich komisch. Viele von ihnen hassen mich. Und durch die vielen Blicke und Kommentare, mit denen sie mir dies zu verstehen gegeben haben, habe ich nach einer gewissen Zeit ebenfalls damit begonnen, es zu tun. Mich selbst zu hassen. Auch meine Eltern sind enttäuscht. Selbst, wenn sie es mir gegenüber niemals zugeben würden, weiß ich eines genau. Sie haben aufgegeben. Aufgegeben, an mich zu glauben. An das Gute in mir. Wie soll ich an mich selbst glauben, wenn es kein anderer tut? Doch ich werde nicht ändern können, wie ich bin. Wer ich bin. Ich bin nicht wie andere, ich kann nicht weiterhin den Weg gehen, der mir vorgegeben worden ist. Den normalen Weg.

 

Normal, schießt es mir durch den Kopf und ich hebe spöttisch einen Mundwinkel, welche Bedeutung hat dieser Begriff heutzutage noch? Was macht einen normalen Menschen schon aus?

 

Piep. Piep… Piep. Piep…

 

Der Rhythmus des einzelnen, abgespielten Tons verändert sich, als er mich zurück in die Gegenwart reißt, in der ich regungslos im Krankenhausbett liege. Das Piepen wird unregelmäßig. Schneller. Erneut lauter. Ich spüre meinen Körper nun gar nicht mehr.

 

Die Erinnerung, die meinen Zustand ausgelöst hat, spielt sich nun erneut vor meinem inneren Auge ab. Langsam setze ich einen Schritt vom Bürgersteig auf die Straße. Die Tatsache, dass ich überall anecke, ist ermüdend – wie alles, was meinen Alltag auszeichnet. Ich mache alles falsch. Immer ist es meine Schuld. Ich beginne zu rennen, ehe ich mitten auf der Straße abrupt innehalte. Ein Auto rast auf mich zu. Plötzlich erscheint es mir, als würde die Zeit stillstehen. Die Zeit, welche auch ohne mich weiterhin vergehen würde. Die die Menschen vergessen lassen würde, dass ich daran gescheitert bin, dieses Leben zu führen. Normal zu sein. Menschlich zu sein.

 

Und in dem Moment, als das Piepen seinen Höhepunkt erreicht, am lautesten in meinen Ohren schrillt, wünscht ein Teil von mir sich, es doch noch versucht zu haben. Ein letzter Gedanke bahnt sich in meinem Inneren an die Oberfläche und blendet alle anderen aus. Als wäre ich doch noch aus dem eiskalten Becken aufgetaucht, trifft mich die Erkenntnis – wie die rettende Luft, welche ich zum Atmen benötige. Das Begehen eines Fehlers ist menschlich, heißt es. Meine Entscheidung, es zu beenden, war so einer.

 

Bevor mein Atem immer ruhiger wird, erkenne ich, dass ich nichts von dem beendet habe, was mich an meinem scheinbar trostlosen Dasein gestört hat. Mein Leid mag nun vorüber sein, doch nun sehe ich ein, dass ich es auf diese Weise nur an andere weitergebe, die es ebenso wenig verdient haben, wie ich.

 

Das schrille Piepen ist nun schier unerträglich, ein penetranter, einziger Laut. Doch plötzlich ist es vorbei – vollkommen unerwartet. Ich spüre nichts mehr, während meine Erschöpfung überwiegt und es nur noch die kalte, schwarze Leere um mich herum gibt, welche mich von allem anderen befreit.