„Gelebtes Leben“

 

Wie jeden Morgen weckt mich das Klicken und Knirschen des Schlosses. Mittlerweile stört es mich gar nicht mehr. Dennoch erinnert es mich immer an meinen schrecklichen Alltag. Ich liege auf meinem Bett und sehe wie die Tür aufschwingt und der Wärter eintritt. Schwarze Uniform und Pistole am Gürtel, eben wie jeden Morgen. „Guten Morgen. Frühstück.“ Und schon wieder das Klicken des Schlosses. Gelangweilt schaue ich auf mein Essen.

Nach ein paar Jahren kommt mir dieser Fraß langsam auch aus den Ohren heraus. Na ja, noch ein Grund mehr, endlich aus dieser Zelle herauszukommen. Da fällt mir wieder die Wichtigkeit dieses Tages ein. Der Tag, der über mein Leben entscheidet. Mein Anwalt hat ihn immer den „Tag der Erlösung“ genannt und ich selbst finde diese Benennung sehr passend. Doch eine Frage plagt mich schon seit Monaten. Die Frage, ob ich überhaupt noch ein Mensch bin.

Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich dort nur ein Monster, das mir böse entgegenblickt und die Worte „skrupelloser Verbrecher“ murmelt. Doch irgendwie hat es Recht. Ich kann gar nicht begreifen, wie ich in der Lage gewesen bin, einer Familie so etwas Schreckliches anzutun. Noch immer kommen mir die Bilder von den schockstarren Augen und dem weit aufgerissenen Mund in den Kopf. Und dann die Mutter, die mich vor Gericht anschreit und danach laut kreischend in Tränen ausbricht. Fast jede Nacht schrecke ich hoch, schweißgebadet. „Was habe ich nur getan?“, frage ich mich dann immer.

Und nun sitze ich hier, in meiner engen Zelle im Todestrakt. Das habe ich nun davon. Trotzdem ist noch nicht alles verloren. Der Tag heute wird die Entscheidung bringen, über eine ewige Gefängnisstrafe oder den Tod. Jedoch stelle ich mir manchmal die Frage, ob der Tod nicht mehr Erlösung und mehr Erleichterung bringen würde als das Recht, weiterzuleben.

Was mich aber am meisten quält, ist diese Ungewissheit, wie das Gericht über mich entscheiden wird. Mit dieser Ungewissheit kann ich mich nicht auf das Urteil vorbereiten. Leider muss ich zugeben, schon manchmal darüber nachgedacht zu haben, mein Leben vorzeitig zu beenden. Dann müsste ich nicht nochmal der verzweifelten Mutter in die Augen blicken.

Oftmals habe ich mir schon überlegt, wie ich meine Tat wieder gut machen könnte. Doch dann kam mir immer die Erkenntnis, dass man solch einen Verlust nicht ersetzen kann. Ich wünsche mir nichts mehr als mich bei der Mutter zu entschuldigen. Das wäre mein Traum. Als ich auf die Uhr sehe, bemerke ich, dass es schon spät ist.

Also wasche ich mich und ziehe mir etwas Ordentliches an. Dann höre ich wieder das vertraute Geräusch beim Öffnen des Schlosses. „Kommen Sie. Wir müssen los.

Die Verhandlung beginnt bald“, sagt der Wärter.

Ich atme tief durch und trete aus der Zelle.