Hoch über dem Platz
Es wird immer gesagt, die wahre Natur eines Menschen zeigt sich, wenn er vor
schwierigen Situationen steht. Ich denke, ihr werdet mir zustimmen, dass der Krieg
eine davon ist.
Der Krieg zerrt an unserer Fassade, reißt uns das angeklebte Lächeln von den
Lippen, stiehlt den Funken der Freude aus unseren Augen, wischt all die
vordergründigen Emotionen von unserem Gesicht. Er legt unser Innerstes bloß,
durchleuchtet uns bis zu den Knochen, bis auf den Grund unserer Seele. Er enthüllt
die finstersten Abgründe, zeigt jedem unsere geheimsten Sehnsüchte und trampelt
auf ihnen herum.
Der Krieg zeigt jedem dein wahres Wesen. Er zeigt jedem, was für ein Mensch du
bist. Ist es nicht merkwürdig? Wir bezeichnen uns als Menschen, ohne wirklich zu
wissen, wovon wir sprechen. Ich bin ein Mensch. Bin ich gut, böse, mitfühlend oder
gnadenlos? Bin ich geizig, freigiebig, fröhlich oder traurig? Vergebe oder hasse ich?
Quäle oder rette ich? All dies und noch so viel mehr gehört zum Mensch sein.
„Mensch sein.“ Wir sprechen davon, benutzen diesen schwer zu definierenden
Begriff, der alles und nichts bedeutet. Ich will es euch erklären.
Ich habe einen Mann gesehen, der eine schwangere Frau und ihr kleines Kind
beschützt hat. Soldaten wollten sie mitnehmen, und alle standen einfach da,
beobachteten diese weinende, schreiende und sich wehrende Frau mit dem kleinen
Kind, das sich an ihre Beine klammerte. Diese Frau, die von den Soldaten mit
emotionslosen Gesichtern mitleidslos über den Boden geschleift wurde.
Ich habe einen Mann gesehen, der die Soldaten aufgehalten hat. Der sich vor sie
gestellt und auf sie eingeredet hat. Der die Soldaten dazu gebracht hat, die Frau
loszulassen.
Nur um sich auf den Mann zu stürzen.
Sie haben auf ihn eingeschlagen, bis er blutete, haben auf ihn eingetreten, bis er am
Boden lag, haben auf ihn eingeprügelt, bis er sich nicht mehr rührte. Dann haben sie
den Mann einfach liegen lassen. Die schwangere Frau war nicht mehr da, sie war
schon zu Beginn geflohen, also gingen die Soldaten weiter.
All diese Leute gingen einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Als wäre nicht
gerade jemand gestorben.
Ich habe einen Mann von unserem Zimmer hoch über dem Platz gesehen, der sein
Leben gab, um eine schwangere Frau zu beschützen. Eine Fremde. Meine Mutter
nannte ihn menschlich. Sie sagte, er habe menschlich in seiner Selbstlosigkeit
gehandelt. Er hat sich wie ein Mensch verhalten.
Ich habe eine Gruppe von Männern gesehen, die eine Familie aus ihrem Haus
getrieben haben. Sie haben sie auf den Platz vor unseren Häusern getrieben, der
plötzlich menschenleer war. So ausgestorben, dass niemand ihn noch vor eine
Minute voller Menschen vermutet hätte. Menschen, die verschwanden, als sie die
bewaffneten Männer sahen, die die Familie vor sich hertrieben. Die sie zwangen,
niederzuknien, die erst die beiden Söhne erschossen und dann die Frauen
vergewaltigten. Die den kämpfenden und weinenden Vater festhielten, damit er
zusah. Die den Vater, der alles mitansehen musste, unfähig zu helfen, unfähig, seine
Söhne zu retten, unfähig, die Schreie seine Frau und seiner Tochter zu überhören,
als Letzten umbrachten.
Ich habe eine Gruppe von Männern gesehen, die einfach davongingen, als wäre
nichts geschehen, als hätten sie nicht gerade eine ganze Familie auf grausame und
brutale Weise ermordet.
Weil der Vater ihnen die Tür zu seiner Wohnung nicht öffnen wollte, weil er nicht
schnell genug geantwortet hatte, weil er nicht demütig genug gewesen war; ich weiß
es nicht. Sie brauchten keinen Grund.
Ich habe eine Gruppe von Männern von unserem Zimmer hoch über dem Platz
gesehen. Alle haben sie gesehen, dutzende von Augenpaaren, die sie beobachteten.
Meine Mutter nannte sie menschlich. Sie sagte, sie hätten menschlich in ihrer
Grausamkeit und Selbstgerechtigkeit gehandelt. Sie haben sich wie Menschen
verhalten.
Auch ich habe mich wie ein Mensch verhalten. Ich saß in unserem Zimmer, nicht im
Stande, mich zu rühren, zu ängstlich, um einzugreifen, um etwas anderes zu
machen, als einfach zuzuschauen.
Weil ich Angst um mein Leben hatte. Ich wollte nicht sterben, wollte nicht verletzt
werden, wenn ich eingreifen würde. Wollte nicht wie dieser selbstlose Mann im
Staub enden. Also saß ich in unserem Zimmer, zu feige, um zu helfen. So wie all
diejenigen, die nur zuschauten, habe ich zugeschaut. Ich habe mich wie ein Mensch
verhalten.
Wenn ich mich deshalb doch nur nicht so elendig fühlen würde.
Dies alles macht „das Mensch sein“ aus. Die Barmherzigkeit, die Selbstlosigkeit, die
Grausamkeit, die Selbstbezogenheit, die Feigheit; der Selbsterhaltungstrieb. All dies
und noch vieles mehr. Und ob wir die guten oder die schlechten Seiten wählen, für
welche Definition wir uns entscheiden, welche Natur wir in uns tragen, zeigt sich in
Prüfungssituationen.
Meine Natur hat sich gezeigt. Ich wünschte nur, ich könnte stolz darauf sein.