Splitter

 

von Sara Garbe

 

Larissa weint. Schluchzer durchschütteln ihrem zierlichen Körper, lassen ihn unkontrolliert zucken. Tränen tropfen von ihrem Kinn, ihre Nase läuft. Verdammt, sie hat doch alles getan! Jeden Tag Fitnessstudio, keine Süßigkeiten, Diät. Alles nur damit er sie liebt, alles nur, damit er bleibt! Was hätte sie denn noch tun sollen? Sie hat doch alles getan! Seine Lieblingsmarken getragen, seine Lieblingslieder gehört und zu Ihren gemacht. Und sie, diese Schlange? Sophie, endlich weiß es Larissa, es ist Sophie.

 

Sophie hasst Techno, hasst Linkin Park! Sophie mit dem komischen FFDP Shirt und den wilden schwarzen kinnlangen Locken, Sophie, die Donuts und Pizza aß, wo Larissa in ihrem Salat stochern musste, ausgerechnet Sophie, oh Larissa hasst Sophie. Sie hasst sie so sehr, dass es wehtut! Sophie die er vorzieht, obwohl er doch zu Larissa gehört. Larissa will den Schmerz nicht mehr, sie will, dass Sophie genauso leidet wie sie, sie will, dass er zurück zu ihr, zu Larissa, kommt oder zumindest, dass dieses Miststück spürt, was sie Larissa genommen hat, wie es sich anfühlt.

 

 Larissa sieht auf das Handy in ihrer Hand, auf das neu gepostete Bild auf Sophies Profil, auf das Bild von Sophie und ihm, dass ihr verraten hat, dass es Sophie sein muss und auf die Kommentare darunter: „Voll süß!“, „Ihr seid sooo süß zusammen<3“, „OMG, Süße, du bist so hübsch!“ Larissa lacht, aber es ist kein echtes Lachen. Es ist ein Lachen in dem all ihre Verzweiflung, all ihre Gebrochenheit steckt. Ihre Hände zittern heftig, als sie tippt:

 

„dreckige kleine Hure! ich hasse dich! hübsch? das meint doch niemand ernst! geh dich vergraben!“

 

Ein Gefühl von bitterer Zufriedenheit macht sich in Larissa breit. Es war gar nicht schwer! Sie könnte es jeder Zeit wieder tun.

 

„Pling!“ Schon wieder vergessen, das Handy auszustellen. Sophie lässt die Fäuste sinken. „Sorry“, murmelt sie mit einem schuldbewussten Blick auf Adrian, ihren Kampfsportlehrer. Seine Augenbrauen sind rasant in die Höhe geschossen, denn in Einem ist er streng: Keine Ablenkung beim Training! Schnell nestelt Sophie an ihrer Tasche herum, zieht das Handy heraus und entsperrt es. Eigentlich will sie nur schnell den Ton ausmachen und dann weiter trainieren, aber ihr Blick bleibt doch an der angekommenen Nachricht hängen. Ihr wird heiß, ihr Mund trocken. Einige Atemzüge vergehen, unregelmäßig und schnell, bevor ihr Gesicht steinhart wird. Mit aufeinander gepressten Zähnen  schaltet sie ihr Handy aus, wirft es in die Tasche und läuft in großen Schritten zurück zu ihrem Boxsack. Viel kräftiger als zuvor schlägt sie darauf ein. „Alles ok, Kleine?“, fragt Adrian besorgt. Normalerweise würde Sophie jetzt grinsen, denn Adrian, ein tätowierter Hüne mit sicher 8 Piercings, sieht trotz allem, wenn er besorgt ist, ein bisschen aus wie ein Teddybär, das liegt an diesen treuen braunen Augen. Aber Sophie presst nur ein: „Alles ok“, hervor, schlägt so heftig auf den Boxsack ein, dass ihre bandagierten Fäuste zu schmerzen beginnen und hofft so die Worte, die sich in ihr Gehirn gebrannt haben zu vergessen. Bei jedem Schlag sieht sie die Schrift vor ihren Augen flimmern und schließlich zieht Adrian sie vom Boxsack weg und in eine Umarmung. Sie erklärt ihm nicht was los ist. Aber das ist Adrian. Er fragt nicht, er ist einfach da.

 

Die Musik ist laut, der Beat wummert. Die Schatten von tanzenden Menschen huschen über Wände, rotes, grünes, blaues Licht im stetigen Wechsel. Jakob nimmt einen großen Schluck Wodka bevor er sich zu Timo dreht: „Also, Wahrheit oder Pflicht?“

 

Timo überlegt. Wahrheit ist beschissen. Schließlich hat er sich gerade erst von Larissa getrennt und ihr nur gesagt, dass es jemand Anderen gibt. Den Teufel hat er getan und ihr gesagt wer, er kennt ja Larissa und ihre Eifersucht. Außerdem hätte er ihr sowieso nicht von Ben erzählen können, denn Larissa denkt ja, dass er auf Mädchen steht und das soll auch bloß so bleiben! Sie würde es weitererzählen und… Sein Vater würde durchdrehen, wenn er wüsste, dass sein Sohn zur Regenbogenfraktion gehört!

 

Also, Wahrheit geht nicht. „Pflicht“, sagt Timo also stattdessen, während er die Wodkaflasche entgegen nimmt und sich ebenfalls eine nicht unbeträchtliche Menge Russischwasser reinkippt.

 

Jakob grinst: „Schreib Sophie eine Beleidigung auf ihr Profil, also schon was Härteres. Anonym natürlich.“

 

Timo starrt Jakob an und versucht zu begreifen, dass er ihm tatsächlich diese Aufgabe gestellt hat! Dann versteht er. Jakob ist angepisst, dass er auch ihm nicht verraten hat, mit wem er zusammen ist. Sophie hält er für am wahrscheinlichsten. Jacob ist halt nicht dumm. Die beiden verbringen viel Zeit zusammen, sie kennen sich schon seit dem Kindergarten.

 

„Das mache ich nicht“;  stößt er hervor. Seine Stimme klingt schrill.

 

Jakob schüttelt energisch den Kopf: „Aufgabe ist Aufgabe! Timo darf sich nicht drücken, oder Leute?“ Die Anderen jubeln. Timo wird übel. Er hat ganz klar zu viel Alk intus, denkt er. Er kann nicht mehr denken. Der Jubel der Leute verschwimmt zu einen Hintergrundbrummen und seine Hände schwitzen, als ihm klar wird: Er muss. Jakob ist der einzige Grund warum er zur Clique gehört. Wenn Timo nicht tut was Jakob will, ist er ganz schnell wieder Timo Schulze, der arme kleine Pisser, der nirgends dazugehört und dessen Vater an der Tanke steht. Timo wird schwindelig, als er sein Handy zückt. Sophie ist stark. Die wird das aushalten. Aber Timo weiß nicht, ob er die Schuldgefühle aushalten wird. Wird er Sophie je wieder in die Augen sehen können?  Mit rasendem Herzschlag tippt er:

 

 „Hässliche Misset!“

 

Er tippt auf senden. Ihm wird übel. Er taumelt ins Bad, übergibt sich.

 

Sophie ist allein zuhause. Sie hat kein Licht angemacht, der Bildschirm des Smartphones taucht ihr Gesicht in ein käsiges Weiß. Schon wieder so eine Nachricht. Seit zwei Wochen bekommt sie sie jeden Tag. Häufig sogar Mehrere. Sie verfolgen Sophie, sie schläft schlecht und fühlt sich minderwertig. Selbst Timo geht ihr in der Schule aus dem Weg. Tag für Tag werden die Texte gemeiner, verletzender. Tränen treten in Sophies Augen als sie mit pochendem Herzen einen Blick auf den Bildschirm wirft:

 

„na miststück? niemand mag dich! und ich? ich hasse dich sogar. stirb einfach, hässliche bitch. tu uns doch diesen kleinen gefallen“

 

Sophie steht auf und taumelt wie eine Schlafwandlerin zum Fenster, reißt es auf. Sie braucht Luft. Sie kann einfach nicht mehr. Sophie weint. Schluchzer durchschütteln ihrem Körper, lassen ihn unkontrolliert zucken. Tränen tropfen von ihrem Kinn, ihre Nase läuft. Sie will einfach nur, dass es aufhört. Dass es aufhört! Sie lehnt sich aus dem Fenster weit in die kalte Nacht hinaus. Ihr ganzer Körper zittert. Sie ist so alleine. Auch früher war sie eher ein Außenseiter, aber diese Nachrichten machen sie fertig. Niemand scheint sie zu mögen. Sie denkt an ihre Mutter. Dauernd auf der Arbeit. Sie denkt an Timo. Er schaut sie nicht mehr an. Sie ist vollkommen allein. Ein Lied geht durch ihren Kopf. „I refuse“ von FFDP, ihrer Lieblingsband. Die gebrochen klingende Stimme des Sängers, die dann zu einem lauten Aufgebehren anschwillt. Immer noch zitternd hebt sie ihr Handy ans Ohr. Es tutet unendlich lange. Natürlich, es ist mitten in der Nacht. Endlich eine verschlafene Stimme:

 

„Adrian Franke.“

 

„Hey Adrian…“, murmelt Sophie sie schluckt heftig, beißt auf ihre Unterlippe, „könnten wir… Ich meine…Hast du Zeit für Training?“

 

Adrian ist wie sie. Er versteht den unausgesprochenen Hilferuf. „Ich komme dich abholen, Kleine, okay? Ich bin gleich bei dir.“

 

„Ok“, murmelt sie und er legt auf. Sophies verkrampfte Finger lockern sich und sie schaut dem Handy zu, wie es fällt und fällt und unten auf dem Asphalt aufschlägt. Dann weicht sie vom Fenster zurück, knallt es heftig zu und verschließt es gewissenhaft, bevor sie zitternd zu Boden sinkt. 

 

Erst als sie unten die Türklingel hört, steht sie auf, hetzt die Treppe hinunter. Adrian zieht sie an sich, ganz eng. Sein Herzschlag ist schnell. Er ist den ganzen Weg gerannt. Sie ist nicht allein. Nein, das ist sie nicht.

 

 

 

(16 Jahre)