Mirror, mirror.

 

Ich starre in ihre eisblauen Augen und verliere mich in ihrer unendlichen Tiefe. Ich sehe ihren Schmerz, ihren Kampf mit sich selbst und mit der Welt um sie herum. Ich sammle mich und versuche mich von ihren Augen zu lösen, kurz blinzelt sie und ich senke meinen Blick um ihren Körper in Augenschein zu nehmen. An ihrem linken Arm fallen mir sofort die vielen kleinen Narben auf, die sie mit der anderen Hand zu verdecken versucht. Sie hat einen recht zierlichen Körper, kurze Beine, lange Arme und ein schmales Gesicht. Sie scheint trotz ihrer Zerbrechlichkeit recht trainiert, was man unschwer an den feinen charakteristischen Linien eines Sixpacks erkennen kann. Um ihre Nase sieht man dezente Sommersprossen, ihr Mund ist halb geöffnet und ihre Augen gleichen Scheinwerfern. Ihre blondroten Haare hängen ihr bis zur Schulter, sie sehen etwas zerzaust aus. Als ich wieder in ihre Augen schaue versinke ich in den Erinnerungen und spüre eine Veränderung um mich herum. Ich finde mich in einem anderen Zimmer wieder, doch ich habe nicht das Gefühl, wirklich in diesem Zimmer zu stehen, mehr betrachte ich alles von außen. Als ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse sehe ich das Mädchen, wie sie mit herunterhängendem Kopf am Fenster steht. Ich trete zu ihr an die verstaubte Scheibe und blicke hinaus. Plötzlich fängt sie an zu reden, aber nicht mit mir, mehr redet sie zu sich selbst. Was wenn wir Menschen gar nicht die Krone der Schöpfung sind? Was wenn wir uns einfach zu wichtig nehmen? Was macht mich zu dem Mädchen, was ich bin? Was macht mich zum Menschen? Und was macht einen Menschen überhaupt aus?

Als ich einen Blick aus dem Fenster werfe sehe ich eine schwarz-weiße Welt, ohne jegliche Art von Freude oder Dankbarkeit, für das, was uns die Welt gibt. Und da komme ich selbst ins Grübeln. Gehört uns überhaupt die Welt? Was können wir unser Eigentum nennen? Nichts Materielles, das wird mir schnell klar, als ich den ersten Menschen auf der Straße erblicke. Sein Blick ist starr nach vorne gerichtet, als würde er in die Zukunft schauen wollen. Er sieht besitzlos und ängstlich aus. Wovor er wohl Angst hat? Fragt das Mädchen in die Stille hinein. Vor der Zukunft? Davor, dass er alles verliert was er noch hat? Angst vor Einsamkeit? Angst in der Menge zu verschwinden? Als einer von vielen? Doch bevor ich antworten kann, verändert sich das Bild vor meinen Augen. Ich sehe das Mädchen, wie es auf seinem Bett sitzt, mit einer Klinge in der Hand. Tränen laufen ihr Gesicht herunter und sie schneidet mit der Klinge in die Haut ihres linken Unterarms. In ihrem Blick sehe ich ihr Leid, ihre Traurigkeit über das was in der Welt und mit ihr passiert und ihre Wut, dass sie scheinbar nichts daran ändern kann. Ich will sie davon abhalten, sich zu verletzen, doch ich bin wie festgefroren. Sorgsam packt sie die Klinge wieder in den kleinen Holzkasten. Ihr Schultern entspannen sich, ein Tropfen Blut rinnt ihren Arm herunter.

Vorsichtig tupft sie das Blut von der Wunde und zieht den Ärmel ihres Pullis wieder über den Arm. Dann blickt sie aus dem Fenster und Tränen der Verzweiflung über das, was sie gerade getan hat tropfen auf ihre Bettdecke. Meine Sicht verschwimmt und ich habe das Gefühl zu fliegen. Einen Moment fühle ich mich frei, bis ich meine Augen öffne. Ich spüre kaltes Eisen an meiner Schulter. Ich drehe meinen Kopf und erkenne die metallenen Stangen eines Käfigs um mich herum. Als mein Blick durch den winzig kleinen Käfig schweift, sehe ich das Mädchen. Sie starrt mich an. Auch sie lehnt mit ihrer Schulter an einer der vielen Stangen, die den kleinen Raum begrenzen. Ich kneife meine Augen etwas zusammen und versuche durch die Lücken des Käfigs hinter ihr zu schauen. Erst erkenne ich nur verschwommenes, dann sehe ich eine graue lange Straße, an deren Seite sich viele graue und sich gleichende Häuser reihen. Es scheint zu regnen, die Menschen, die mein müdes Auge erblickt sind umhüllt von dicken Mänteln und in ihren Händen halten sie Regenschirme, die sie vor dem lebenswichtigen Nass schützen. Ein kleiner Schauer läuft mir über den Rücken, als ich in ihre leeren Augen sehe. Ich spüre Wind an meinem fast ganz von Klamotten entblößtem Körper. Die ersten Tropfen prasseln auf mich hernieder und ich fange an zu frieren. Als ich mich langsam aufrichte, merke ich die Wunden an meinem Körper, manche tiefer und größer, andere kleiner und übersehbarer. Ich schaue hinter mich und realisiere, dass der Käfig mitten auf der Straße platziert ist, die Menschen übersehen ihn fast, doch mir ist bewusst, dass sie ihn wahrnehmen.

In meinem Kopf ertönt eine Stimme, dunkel und kalt. Arme, kleine Mädchen. Ganz allein, zwischen den vielen Menschen. Nein, sie werden euch nicht helfen. Sie haben genug zu tun, Stress im Job, Stress mit den Kindern, Stress mit dem Partner oder der Partnerin. Keiner interessiert sich für euch. Warum auch? Die Welt ist schlecht, was hat es für einen Sinn, krampfhaft zu versuchen, sein Gewissen zu beruhigen. Man kann die Welt nicht verbessern, das wäre Zeitverschwendung. Also, was nützen uns zwei kleine Mädchen? Ihr seid Ballast, man könnte auch sagen, Abfall. Die Menschen haben genug Probleme, ihr wärt nur ein weiterer Stein, auf dem Weg ihres ohnehin schon steinigen Lebens. Wir sind alle Einzelgänger, jeder kümmert sich nur um sich, so kommt man eben am Weitesten. Wer nicht gut genug ist, scheidet aus. Stille. Ich höre nur mein pochendes Herz, kein Autolärm, keine bellenden Hunde, noch nicht mal das Pfeifen des Windes ist zu hören, obwohl man ihn deutlich spüren kann. Wieder diese Stimme in meinem Kopf. Und noch dazu seid ihr Mädchen. Man könnte euch schon fast als Volkskrankheit betrachten. In mir brodelt Wut auf, Wut auf alle Menschen auf mich herum, weil sie sich blind stellen, Wut auf alle Egoisten dieser Welt, alle, die das Leid der anderen auf dem Fernseher betrachten und höchstens einen kleinen Seufzer zustande bringen und  Wut auf mich, weil ich zu schwach bin um aufzustehen und den Käfig aufzubrechen. Weil ich so schwach bin, dass ich mich selbst verletze. Weil ich zu schwach bin, um stolz auf mich sein zu können und weil ich zu schwach bin, um Glücklich zu sein. All das ballt sich zu einem Feuer in meinem Herzen zusammen und verwandelt sich in einen lauten Schrei, der aus meiner Kehle dringt. Um mich herum gefriert die Welt, der Boden wird mir unter den Füßen hinfort gerissen und ich falle.

 

 Mein Körper prallt unsanft auf den sandigen Boden. Ich rappele mich sofort auf und sehe eine schreckliche, schwarzweiße Welt. Überall ist das Leid den Menschen ins Gesicht geschrieben. Doch keiner hilft dem anderen. Jeder schert sich nur um sich. Ein weinendes Kind, doch keiner tröstet es. Ich fasse den Entschluss und bewege mich auf das Kind zu. Ich knie mich vor den kleinen Jungen, sodass ich mit ihm auf einer Augenhöhe bin. Sanft streiche ich ihm die Tränen aus dem Gesicht und drücke seinen kleinen zierlichen Körper an mich. Nach einiger Zeit löst der Junge sich von mir und schaut mich aus seinen großen Augen an. Dann lächelt er. Ich bin überwältigt und sehe ihm tief in die Augen. Langsam füllt sich sein grauer Körper mit Farbe, er scheint wie aus einem Traum erwacht zu sein, er schaut mich wieder an und scheint sich mit seinem Blick bedanken zu wollen. Plötzlich höre ich wieder eine Stimme in meinem Kopf. Doch diesmal ist sie nicht kalt, sondern warm und herzlich. Glaub an dich, kleines Mädchen. Du dachtest, man kann Welten nur in Comics zum Guten wenden, doch du hast gerade die ganz eigene Welt dieses kleinen Jungen verändert. Sieh doch wie glücklich er ist. Du hast ihm den Geist des Lebens eingehaucht und ihm einen Sinn gegeben, weiterzuleben. Man braucht nicht glücklich zu sein, um anderen ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Geh zu den Menschen und bringe sie zum Schmunzeln, zum Lachen oder zum glücklich sein. Zeig ihnen, sie sind nicht allein. Wir halten zusammen, denn wir sind eine Spezies, wir verstehen einander, wir helfen uns. Wie ein Puzzle, jeder hat seinen Platz, jeder wird gebraucht. Geh hinaus in diese Welt und zeige den Menschen die schöne Seite an ihr. Mache die Welt wieder bunt und lebenswert.

Ich schließe meine Augen und atme tief ein. Meine Lunge füllt sich mit Glück. Ein greller Lichtblitz durchzuckt mein stilles Lachen und meine Augen öffnen sich. Wieder stehen sich das Mädchen und ich gegenüber. Als sie ihren Kopf hebt, lächelt sie mich an. Dann öffnet sie ihren Mund und sagt: Es gibt so vieles, was du in dieser Welt kaufen kannst. Doch es gibt nur weniges, was du besitzen kannst. Nur dir gehören deine Gedanken, auch kann dir keiner deine ganz eigene Geschichte wegnehmen. Dein ist die Kunst, die du erschaffst, sei es ein Bild, ein Song, oder ein Text, den du mit deinen Gefühlen füllst und zum Leben erweckst. Sei du selbst, in dem was du tust. Die Welt braucht dich und du brauchst die Welt. Geh hinaus, fülle die Welt mit deinem Glück. Denn die Farbe der Welt ist das Glück.

 

Nachdem ich kurz verdaut habe, was sie gesagt hat, erfasst mein Auge den Rand des Spiegels, vor dem ich stehe. Ich betrachte mich ein weiteres Mal im Spiegel, das einst noch fremde Mädchen hat die Hand von den Narben genommen, sie steht aufrecht und in ihren Augen sehe ich Glück. Und nach etlicher Zeit, bin ich endlich einmal wieder stolz auf mich. Stolz auf das was ich denke, auf das was ich tue und was ich getan habe. Ich kann mit meinen Narben leben, sie sind ein Teil von mir. Sie gehören zu meiner Geschichte, wie alles andere. Sie sind ein Puzzleteil von vielen, doch jedes ist wichtig, um das große ganze zu erzeugen. Ich blicke mich ein letztes Mal im Spiegel an und murmele:  Was uns Menschen ausmacht ist, dass wir kommunizieren. Wir teilen unsere Geschichten miteinander, wir hören uns zu. Egal wie viele Menschen wir auf diesem Planeten sind, alle sind wir einzigartig und ein Teil dieser Welt. Doch eins sind wir nicht, nämlich allein.