Blaue Magie

 

 

 

Kapitel 1. Sprechendes Papier

 

 

 

Es war still am Strand, nur die kleinen Wellen schlugen sanft an dem Ufer an und zogen sich wieder zurück, als hätte sie etwas gebissen. Nina saß stumm über einem alten zerfledderten Buch, das sie auf dem Dachboden des Strandhäuschens gefunden hatte, das ihr Vater für die Sommerferien gemietet hatte.

 

Die Worte darin waren verblasst und nahezu unleserlich, und die Wortfetzen, die Nina versuchte zu Wörtern zusammen zufügen, ergaben einfach keinen Sinn.

 

Manche Buchstaben kannte sie nicht mal, komische Zeichen, wie das spiegelverkehrte Z mit den drei Spiralen, oder das umgekehrte A, das zwischen zwei Balken gequetscht war, oder noch so seltsame Zeichen.

 

Da steckte ihr Vater den Kopf aus der Tür des Strandhäuschens, sah zum Strand und rief: "Nina, das Essen ist fertig!"

 

Abrupt drehte sich Nina um und rief: "Komme gleich!" Obwohl sie am liebsten gerufen hätte: "Man, Papa! Das kann ja der halbe Strand hören!" Doch sie unterließ es, das war nun wirklich nicht sehr nett, denn außer ihr war der Strand vollkommen leer.

 

Sie stand auf und wollte schon losrennen, als sie hinter sich eine leise Stimme hörte.

 

Die Stimme flüsterte etwas in einer Sprache, die das Mädchen nicht verstand: "Noris doris bundinoris."

 

"Hallo?" fragte Nina und drehte sich um, doch hinter ihr war niemand, der Strand war

 

nach wie vor leer.

 

"Bunoris, bunoris, goris bunoris...." flüsterte die Stimme wieder. Ein Windstoß liess das Meer rauschen und langsam hob sich ein Blatt aus dem Sand. Wild flatterte es im Wind, Nina griff danach, doch konnte es nicht fangen. Es war, als ob das Blatt lebendig geworden war. Endlich legte sich der Wind und das Blatt fiel zart zu Boden. Nina bückte sich und hob es auf. Das Papier knisterte und fing an, sich in einer seltsamen Sprache zu beschweren.

 

"Loris toris mebilores!"schimpfte das Blatt, das glaubte Nina jedenfalls. Da hörte sie plötzlich eine andere Stimme, die ungeduldig rief: "Nina, das Essen wird kalt!" Das war ihre Mutter, die ihren Kopf aus der Tür gesteckt hatte.

 

Zuerst wollte Nina zu der Mutter laufen, um ihr das sprechende Blatt zu zeigen, doch dann entschloss sie sich, es erstmal für sich zu behalten.

 

Sie knickte das sich immernoch beschwerende Blatt und steckte es in ihre Hosentasche, hob das Buch aus dem Sand und rannte in Richtung des Strandhäuschens. Es stand direkt am Meer, sodass so manche Wasserspritzer bei Wind an der Scheibe haften blieb.

 

Ihre Eltern saßen schon am Tisch, als sie ins Haus gestürmt kam. " Da bist du ja endlich! sagte ihre Mutter, doch Nina achtete nicht auf sie, sondern eilte weiter die Treppe hinauf. Oben angekommen schlug sie die Toiletten Tür auf, drehte das Schloss um und ließ sich auf dem Boden nieder.

 

 

 

Ganz aus dem Atem schob sie die Hand in die Hosentasche, um das Blatt hervorzuholen. Doch das Stück Papier war nicht mehr da. Sie krammte in der anderen Hosentasche herum, doch alles was sie fand waren ein paar Kieselsteine und ein Pfefferminzkaugummi. Sie griff nach dem Buch, das sie neben sich auf die kalten Fliesen gelegt hatte, doch auch das war fort. Sie schloß die Tür auf und blickte ihrem Vater ins Gesicht. " Das war sehr unhöflich von dir, du hast Mama und mich einfach

 

da sitzen gelassen!"

 

 

 

"Schnell eine gute Ausrede!" dachte Nina, denn die Geschichte vom sprechenden Blatt würde ihr Vater ihr bestimmt nicht glauben. "Tut mir echt leid, ich musste aber dringend auf die Toilette!"

 

" Ist schon gut, jetzt aber komm und iss was!"

 

Traurig und mit einem schlechten Gewissen wegen der Lüge ihrem Vater gegenüber, kam sie die Treppe hinunter.

 

" Ich habe heute extra Tintenfischringe gemacht, dein Lieblingsessen." sagte Mama als die Tochter endlich am Tisch saß. "Heute ist irgendwie nicht mein Tag." sagte Nina und zog sich nach dem Essen in ihr Zimmer zurück. Sie versuchte sich an etwas auffälliges am Strand oder auf dem Weg nach Hause zu erinnern, doch ihr fiel nichts ein. Ihr Kopf war so leer wie eine leere Konservenbüchse. Sie konnte sich nicht mal daran erinnern was das Blatt gesagt hatte, "Ja, das war wirklich sehr merkwürdig....." dachte sie, bevor sie einschlief.

 

 

 

Kapitel 2. Die blaue Nacht

 

Sie wurde von dem Läuten einer Kirchglocke geweckt, die eine seltsame Melodie spielte. Es war, als ob man Papier zerknitterte, aus jedem Ton war ein Rascheln herauszuhören. Nina stand auf und ging zum Fenster, um den Kopf ins Freie zu stecken, als ihr etwas in den Weg flatterte, es war etwas wie Glühwürmchen, nur blau. Nina griff danach, doch ihre Hand ging durch das Glühwürmchen als wäre es Luft. Sie ging näher ran und betrachtete es, es war ein kleiner Stern, ein blauer Stern.

 

Er schwirrte einmal durch's Zimmer und flatterte wieder nach draußen. Nina folgte ihm und steckte den Kopf aus dem Fenster.

 

Die Welt draußen schien in blaues Licht getaucht, alles war blau: das Dach, die Bäume, die Straßenlaterne, alles, sogar die herumstreuende Katze war blau, blau wie das Meer und der Himmel, der sich darin spiegelte.

 

Sie schlug das Fenster zu, drehte sich um und ging zu ihrem Bett hinüber. Als sie sich auf das Bett setzte, fühlte es sich so hart an, als hätte sie sich auf ein Stein oder ähnliches gesetzt. Nina stand auf. Dort wo sie gesessen hatte, lag ein blauer Beutel.

 

Sie öffnete ihn, drinnen lag ein Buch, es war das Buch mit den komischen Zeichen. Sie schlug es auf, ein Zettel rutschte aus den Seiten. Nina hob ihn auf und faltete den Zettel auseinander, er knisterte und sagte: " Dundus amus Strandurius Märius." Es war DER Zettel, das plappernde Stück Papier. Die blaue Buchstaben glitzerten im Mondlicht. Nina strich darüber, das Papier fühlte sich rau an, wie grober Sand. Als sie ihre Hand hob war diese blau, das Blau sprang auf ihre Haare rüber, ihr Nachthemd, den Boden, ihr Bett, alles wurde blau. Nina ließ das Blatt fallen und rannte ins Zimmer ihrer Eltern - auch dort war alles blau. Ihre Eltern schliefen, nichts wissend von der blauen Magie, die in ihr Haus eingedrungen war.

 

Unheimlich, doch zugleich auch irgendwie schön.

 

 

 

Kapitel 3. Blaue Büchermagie

 

Als Nina wieder in ihrem Bett lag, konnte sie nicht einschlafen, sie machte sich Sorgen um sich und die Eltern, um die ganze Welt.

 

Auf irgendeine Weise fühlte sie sich schuldig, denn schließlich war sie es gewesen, die dieses Buch vom Dachboden holte und das Plapperpapier fand. Sie musste etwas unternehmen, soviel stand fest! Sie musste unbedingt ihre Eltern warnen, solange die blaue Magie ihnen allen noch nicht den Kopf verdreht hatte. Aber was sollte sie tun, sie war ein kleines 11 jähriges Mädchen? Einfach runterlaufen und sagen, dass die ganze Welt blau geworden war? Ja, das würde sie tun, sie würde ihnen alles erzählen, von Anfang an!

 

Doch gerade als sie losrennen wollte, spürte sie, dass sie festklebte, ja sie klebte am Boden fest. Erst jetzt verstand Nina wie gefährlich die blaue Magie war.

 

Nina musste sich befreien, sonst würde sie womöglich zu einer blauen Statue werden. Was mit ihren Eltern passiert war, wusste sie nicht, vielleicht waren sie schon versteinert oder ganz festgeklebt?

 

Der Gedanke machte ihr Angst, sie wollte nicht nicht daran denken, doch dies zu vermeiden war unmöglich! Der Taschenmesser lag in irgendeiner Schublade im Schreibtisch. Das war zu weit weg, sooo lang waren ihre Hände nun auch wieder nicht. Nina griff nach einem ihrer Beine, das schon bis zum Knie versteinert war, versuchte es aus der blauen Masse, die sie umgab, herauszuziehen, doch es gelang ihr nicht. Sie klebte fest!

 

Aber vielleicht befindet sich die Lösung in dem Buch? Nina streckte ihre Hand aus, ihre Finger berührten nur leicht den Buchdeckel, dennoch blieb das Buch an ihren Fingern kleben! Es sah so aus, als hätte blau auch seine Vorteile.

 

Nun schlug das Mädchen das magische Buch auf, da waren sie wieder, die Zeichen, so fremd und unverständlich.

 

Sie las die ersten Worte: "Zsoloaegdus bboleogiesisus roxsurx lurminurius!"

 

Darauf folgte ein blaues Glitzern, die Buchstaben fingen an, sich zu verändern. Auf einmal konnte sie das Geschriebene lesen: "Das blaue Buch der blauen Zaubersprüche"

 

Nina blätterte um, auf den nächsten Seiten standen mit blauer Tinte geschriebene Zaubersprüche, jetzt aber alle in Deutsch. So, die Sprache verstand sie nun, doch die Worte, die sie las, waren einfach nur Quatsch! Auf der 6. Seite fand Nina einen Zauberspruch, der lautete: "Sehen, gehen, schreien, wuschen, auf dem Parkplatz Kinder duschen, lange stand die Frau am Tisch, deren Mann hing an dem Fisch, von dem Himmel fielen Gassen in die Futterstelle Rassel." Nina lachte laut, so ein lustiges Gedicht hatte sie schon lange nicht mehr gelesen, auch wenn sie sich in einer sehr ernster Lage befand, es war trotzdem lustig!

 

Sie las es noch ein mal, diesmal laut, blauer Staub fiel ins Zimmer, aber nichts geschah. Nina las weiter und das Zimmer fühlte sich mehr und mehr mit dem blauen Staub. Sie wurde immer schläfriger, irgendwann fiel sie zum Boden und schlief ein.

 

 

 

Kapitel 4. Quatsch

 

Als Nina am nächsten Morgen erwachte, war es immer noch dunkel, es konnte aber unmöglich sein, denn die Uhr zeigte erst 15:00 Uhr mittags an. Nina bemerkte, dass sie nicht mehr blau war, nichts war mehr blau, alles war wieder normal.

 

Doch als sie nach unten kam, wurde ihr klar, dass Nichts normal war. Ihre Mutter hatte pinke Haare, trug hohe Absatzschuhe in neongelb, lange blaue Strümpfe, eine gepunktete Badehose, eine grüne Strickjacke und auf ihrem Kopf prangte ein eiserner Kochtopf!

 

"! ztahcS niem, negrom netuG", sagte sie.

 

"oakaK nied tsi reiH", sagte ihre Mutter und hielt Nina eine Suppenschüssel hin, in der Brokkoli lag. "Mama?", frage Nina,. " Mama?", wiederholte ihre Mutter verständnislos, " ? neßieh sad llos saW"

 

Was zum Kuckuck war hier los, alles war so komisch! Da kam ihr Vater zu ihr rüber, er war barfuss, hatte eine Badehose an, trug eine pinke Krawatte, und das schlimmste - er stand auf dem Kopf!

 

Nina fragte erst gar nicht, was los sei, sondern rannte aus dem Haus.

 

Als sie am Parkplatz vorbeikam, standen dort Duschkabinen, in denen in Pelzmäntel

 

angezogene Kinder ihre Mütter mit Limonade wuschen. Sie lief weiter, doch wo sie auch hinkam, alle spielten verrückt: die Gärtnerin zog ihre Blumen aus den Beeten, der Postbote holte die Post ab, die Feuerwehrleute malten den Bahnhof an, es regnete Tomatensuppe und so weiter!

 

Schließlich kam Nina wieder nach Hause. Sie sperrte sich in ihr Zimmer ein und schlug das Buch auf:" Da muss doch etwas vernünftiges stehen!" Denn inzwischen verstand sie langsam, dass die Zaubersprüche, die sie gestern gelesen hatte, gewirkt hatten, der ganze Quatsch war wahr geworden!

 

 

 

Kapitel 5. Normal

 

Diesmal standen sinnvolle Sätze in dem Buch, verständliche Worte, und als sie nach langem blättern eine Seite fand wo in leichter Verse geschrieben stand: "Was normal war wird verrückt, was verrückt war ist geglückt, das verrückte wird normal, durch verrückte Zauberei!“

 

Oh nein, das war wohl die Erklärung für das ganze Durcheinander, das war der Zauberspruch den sie gestern im Quatsch gelesen hatte.

 

Doch wie machte man ihn rückgängig? Einfach lesen? Nina versuchte es, doch nichts passierte. Nicht einmal blauer Staub rieselte vor der Decke. Sie las es rückwärts, stellte die Worte um doch es passierte immer noch nichts.

 

"Du muss es umdichten" flüsterte eine leise Stimme. "Plapper Papier?" fragte Nina.

 

Keine Antwort.

 

"Hallo?" - immer noch nichts.

 

Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, und begann denn Zauberspruch umzudichten,

 

wie die Stimme es empfohlen hatte.

 

Hoffentlich wirkte es auch, dachte sie, und begann zu schreiben.

 

 

 

"Was verrückt war wird normal, was normal war ist geglückt, das Normale wird verrückt durch normale Zauberei." las sie vor als sie fertig war. Oranger Staub rieselte von der Decke, die Komplementäre Farbe wurde zur blau, das hatte sie in der Schule gelernt, irgendwas musste passiert sein. Nina rannte nach unten, dort stand ihre Mutter in normalen Kleidern und sagte:

 

"Nina, na endlich, das Essen wird kalt!".

 

"Mama, ich habe dich so vermisst!" rief Nina und fiel ihrer Mutter um den Hals "War ich denn weg?" fragte ihre Mutter verdutzt, und da wusste Nina, dass alles wieder normal war, und das niemand sich an die heutigen Ereignisse erinnerte. Sie hatte es geschafft!