Schritte

 

 

Schritte hallen durch den leisen Raum. In der nächtlichen Stille wirken sie laut wie ein Paukenschlag. Sie zerreißen die Idylle einer friedlichen Nacht und konfrontieren jede anwesende Person mit der bitteren Realität, der ungeschmückten Wahrheit. Jede Eigenart dieses spezifischen Ganges sind in das Gehirn des Kindes, welches in ebendiesem Raum liegt, eingemeißelt. Das leichte Schlurfen wenn es ein Bier zu viel war, das auffälligere Rumpeln, wenn es zwei waren.

 

Das Herz des Jungen schlägt wie wahnsinnig in seiner Brust. Es rast so sehr, dass er spüren kann, wie sein Kopf heiß wird und seine Ohren brennen. Er fühlt, wie das Adrenalin durch seine Venen schießt und verspürt augenblicklich den schier unwiderstehlichen Drang irgendetwas zu tun. Am liebsten würde er seinen ganzen Körper schütteln. Aufspringen, rennen, Hürdenlauf, auf etwas einschlagen. Es wäre ihm sogar egal, wenn es sich dabei um seinen eigenen Körper handeln würde. Vielleicht wäre das sogar besser. Er hat gelernt, dass nichts einen solchen Energieschub schneller abklingen lässt, wie körperlicher Schmerz. Einmal hat er seinen Kopf dabei so heftig gegen die Wand geschlagen, dass er eine Gehirnerschütterung davontrug.

 

Es ging ihm nie besser.

 

Das Liegenbleiben ist  inzwischen schon fast schmerzhaft und beinahe unmöglich. Beinahe. Aber in dieser Situation würde er es niemals wagen, sich zu rühren. Jedes Rascheln der Laken, jeder zu laute Atemzug könnte ihn verraten und den Eindringling an seine Existenz erinnern.

 

Seine Finger klammern sich an seine Bettdecke, die bis über seinen Mund hochgezogen ist. Er kann seinen eigenen, heißen Atem spüren und wie die Decke ihn auf seinen Mund zurück wirft. Er klammert so fest, dass seine Finger überdehnt sind, seine Fingerspitzen ganz rau von dem leinenartigen Stoff sind und seine Knöchel weiß anlaufen. Er kann seine Hände in dem erdrückenden Schwarz der Nacht zwar nicht sehen, aber seine Vorstellungskraft liefert ihm jedes erdenkbare Detail über seine erbärmliche Situation. Er kann so etwas wie ein Stadionsprecher in seinem eigenen Kopf sein. Er kann über jeden Sachverhalt vollkommen neutral in seinen Gedanken berichten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ihn oder einen Anderen handelt. Er kann seinen Geist soweit von seinem Körper distanzieren, dass alles was mit seiner Hülle passiert, ihm wie ein Film auf der Leinwand vorkommt. Überall, wo die Decke ihn berührt und umhüllt, ist er sicher. Inzwischen ist das fast ein Spiel für ihn. Im Gegensatz zu seinem von der Decke durchgewärmten Körper, fühlt sich seine freie Stirn fast kühl an. Die Tatsache, dass er seine Stirn generell unbedeckt hält, erweckt in ihm die Illusion, ein waghalsiger Junge zu sein. Es erlaubt ihm, seine Rolle als verzweifelten Grundschulgänger, hoffnungslosen Bettnässer und unfreiwilligen Außenseiter zu verlassen und für einige Sekunden in die Gestalt, eines anderen Jungen zu schlüpfen.

 

Der Moment ist viel zu schnell vergessen, als die schweren, sich ungnädig nähernden Schritte die Treppe hinter sich gelassen haben und jetzt den Flur entlang stolpern. Der Flur, in dem auch der kleine, verzweifelte Junge liegt und sich Gedanken über seinen Schutz macht. Als das Geräusch der abgetragenen Anzugsschuhe auf dem Laminat verstummt, überzieht eine unangenehm intensive Schicht von Gänsehaut die Gestalt des verängstigten Kindes.

 

Jetzt stockt sein Atem, er könnte nun nicht mal Luft holen, wenn er am Ersticken wäre. Knapp unter seinem Hals, hat sich etwas wie ein schwarzes Loch aufgetan. Genau weiß er nicht, was das ist, doch in seiner Vorstellung, ist es ein alles zerstörender Shredder, der jegliches Gefühl außer Angst eliminiert, bevor es zu seinem Herzen gelangen kann. Dieses schwarze Loch arbeitet unnachgiebig gegen seinen Wirt, indem es ihm seiner Hoffnung und seines Glaubens beraubt. Es fühlt sich an, als würde ihm eine fremde Hand auf die Brust drücken. Vor Angst wird ihm etwas schwindelig und seine Zimmerdecke verschwimmt vor seinen brennenden Augen. Er kann nicht blinzeln. Er versucht die Bretter, die sich leicht unter der Tapete abzeichnen, zu zählen. Er kommt nicht weiter als 1.  Er hat die Bretter schon unzählige Male in seinem jungen Leben gezählt und wenn man ihn in einer anderen Situation gefragt hätte, hätte er einem sagen können, dass es genau 52 sind. Es sind 13 Reihen mit jeweils 4 Brettern. Die Tage, an denen er für so unbeschwerte Dinge wie Bretter zählen Zeit hatte, erscheinen ihm unendlich weit in der Vergangenheit zu liegen. Wie in einem anderen Leben. So ein Leben, denkt er, gehört zu einem ganz normalen 8-jährigen Jungen. Einem Jungen, der samstags mit Freunden Fußball spielt und mit seinem Vater zusammen Bundesliga schaut.

 

 1

 

Er kann sich nicht mal wirklich die Frage stellen, welche Zahl nach 1 kommt. So weit hat sich sein Gehirn jetzt abgeschaltet. Er wiederholt die Ziffer so oft in seinem Kopf, dass das Wort sich von seiner Bedeutung löst. Er weiß nichtmehr, wie lange er schon dort liegt. Es könnten Stunden, oder auch Minuten sein. Es würde ihn nicht wirklich überraschen, wenn gleich die ersten Sonnenstrahlen durch sein Fenster scheinen würden. Hoffnungsvoll erlaubt er sich einen Blick zum Fenster, aber es ist immer noch der Mond, der das Licht auf die kleine Stadt hinter der Glasscheibe wirft.

 

Der Tag ist so viel einfacher als die Nacht. Tagsüber gibt es fast nie einen Grund wirklich Angst zu haben. Tagsüber ist alles viel weniger unheimlich, sogar Clowns scheinen in der Sonne weniger bedrohlich zu sein.

 

Es ist nun unerträglich heiß unter seiner Decke, seiner Festung, seinem Rückzugsort. Inzwischen ist auch seine Stirn nicht mehr kühl und er denkt, vielleicht wäre es außerhalb seiner gewohnten Umgebung sicherer als in ihr. Schwarze Punkte tanzen nun vor seinen Augen und erschweren seine Sicht. Er kann die Bretter über seinem Kopf nun nicht mehr erkennen und das Zählen ist längst vergessen.

 

Seine Lunge schreit nach Sauerstoff. Diese Situation ist so schrecklich, so schlichtweg hoffnungslos, dass er am liebsten schreien würde. Aber das ist keine Option. Wer schreien will, muss atmen und er wäre verrückt wenn er nur einen winzigen Teil seines noch verbleibenden Sauerstoffes freiwillig abgeben würde. Wenn er noch genug Kraft zum Denken hätte, würde er sich an die vielen Male erinnern, in denen er ins Wasser getaucht ist und versucht hat, solange wie möglich die Luft anzuhalten. Wenn er noch genug Kraft zum Denken hätte, würde er sich fragen, wie er jemals etwas so Dummes machen konnte. Jetzt im Moment könnte er sich keine Situation vorstellen, die den Verlust von Sauerstoff rechtfertigen würde. Den freiwilligen Verlust. Er wünscht sich, er hätte vorher daran gedacht. Er wünscht sich, er hätte nicht vor lauter Angst mit dem Atmen aufgehört. Vorhin hätte er vielleicht noch die Gelegenheit gehabt, seine Reserven aufzufüllen, aber die ungeschickten Schritte sind verstummt und er kann die Hand auf der Türklinge beinahe hören, schon fast durch die Tür hindurch wahrnehmen. Er weiß einfach, dass sie dort ist. Genauso weiß er, dass nun seine allerletzte Chance ist, die Aufmerksamkeit des Feindes von sich abzulenken. Selbstverständlich kann er nichts aktiv tun, aber wenn er es sich mit jeder Zelle seines Körpers wünscht, dann geht es vielleicht in Erfüllung. Die Qualen des  Sauerstoffmangels sind inzwischen ins Unerträgliche gestiegen. Die Angst, gleich nach Luft schnappen zu müssen, lähmt ihn. Seine Augen brennen. Womöglich, denkt er, habe ich vergessen zu blinzeln.

 

Und dann, wie hätte es anders kommen können, keucht er auf und sein Körper ist neu erfüllt von lebensbringenden Sauerstoff. Nur, dass es sich nicht wie eine Entlastung anfühlt, sondern eher nach einem verlorenen Kampf.