NUR  IM  DOPPELPACK

 

 

 

Hey, mein Name ist Taha. Ich bin ein ganz gewöhnliches Kind, ich habe eine Mutter namens Theresa und einen Vater namens Matthias. Doch am meisten aus meiner Familie mag ich meinen großen Bruder Alim! Ich glaube, das liegt ein bisschen daran, dass nur er in meiner richtigen Familie existiert. Ich bin nämlich ein Adoptivkind. Ich bin zusammen mit meinem Bruder aus Syrien geflohen. Er ist alles, was mir aus meinem früheren Leben geblieben ist. Damals wurde überall geschossen. Meine Familie saß im Wohnzimmer und ich hielt mich mit Alim in unserem kleinen Schlafzimmer auf, da wurde unser Haus gestürmt. Mein Bruder und ich hörten plötzlich einen riesigen Knall, wir zuckten zusammen und wagten nicht mehr zu atmen.  Doch dann musste ich wissen, was passiert war. Alim wollte mich im Nebenraum festhalten und verstecken, aber ich riss mich los und rannte ins Wohnzimmer, direkt in den Lauf zweier Gewehre. Ich erspare euch weitere Details, aber an jenem Tag habe ich meine Eltern, meinen jüngeren Bruder Yasin und meine beiden Schwestern Junis und Samira verloren.  

 

Mein Bruder und ich haben als Flüchtlinge dann aber viel Glück gehabt. Und es ist nicht so, dass ich meine Ersatzeltern nicht sehr lieben würde, aber Alim ist mein fester Anker, er gab mir die Kraft, das Erlebte irgendwie zu überstehen. Ich bewundere ihn auch heute jeden Tag für alle seine Taten. Wie toll er singen kann, wie cool er sich stylen kann und vor allem, wie lustig er ist. 

 

Anfangs wollte mich niemand adoptieren. Es waren zwar einige Paare bereit mich mitzunehmen, aber es scheiterte immer an derselben Sache. Doch an einem ganz gewöhnlichen Heimtag begegnete ich Familie Brown zum ersten Mal. Wie jeden Tag um 6.30 Uhr aufstehen, um 7.15 Uhr Frühstück und um 7.55 Uhr Schulbeginn. Wir hatten Physik bei Frau Pepe. Es war stinkend langweilig, sie faselte gerade etwas von Halbschatten und Kernschatten und so weiter, dann öffnete sich plötzlich die Tür und der Heimleiter Herr Nautan betrat zusammen mit einer ca. dreißigjährigen Frau mit fuchsroten Haaren und einem zwei bis drei Jahre älteren Mann mit Dreitagebart das Klassenzimmer. Der Leiter rief in den Raum hinein:
“Taha Malik, bitte in mein Büro kommen!“ Ich stand sofort auf und folgte ihm auf den Boden guckend und schlurfend in sein Zimmer.

 

Er sprach: „Das ist Familie Brown.“ Ich wagte einen zweiten Blick. Nein, diese Familie war anders als alle anderen Leute zuvor. Ich spürte das, doch ich konnte mich nicht weiter in sie verlieben, weil ich von Herrn Nautan in meinen Gedanken unterbrochen wurde: ,,Pack‘ deinen Koffer und sei in 10 Minuten wieder hier.“ Ich tat, wie mir befohlen. Bald stand ich vor einem quietschgrünen Cabrio. Frau Brown sprach: „Komm Taha, steig ein.“ Mir fiel wieder auf, wie weich ihre Stimme doch war, wie nett sie lächelte. Ihr Mann, wie einladend er mit meinem Koffer in der Hand dastand. Ja, das ist sie, die richtige Familie! Doch ich rührte mich nicht vom Fleck, ich sprach trotzig: ,,Nicht ohne meinen Bruder!“ Ich führte sie nach oben und zeigte ihnen Alim. Als sie ihm begegneten, blickten sie ihn an, als wäre er ein Alien aus einer riesigen Galaxie, die gar keine Galaxie ist. Sie warfen sich verdatterte und schuldbewusste Blicke zu. Alim nervte das und er fragte vorwurfsvoll: ,,Weshalb starren sie mich so an?“ Ich versank wieder in Gedanken - wie direkt er doch war, er hat noch nie in seinem ganzen Leben ein Blatt vor den Mund genommen - doch ich wurde nochmal unterbrochen, diesmal aber von Mr. Brown. Er stotterte: ,,Weißt du Taha, wir wollten eigentlich nur ein Adoptivkind.“ Mit diesen Worten verließen sie das Heim wieder.

 

Ja, ich hatte mich in ihnen getäuscht, dabei war ich mir doch so sicher, der richtigen Familie begegnet zu sein. Da auf einmal flossen die Tränen, eine nach der anderen an meinen Wangen herunter, aber Alim tröstete mich mit den Worten: „Quietsch-grünes Auto, du darfst die Hoffnung nicht verlieren.“ Ach, wie stark er doch war. Alim ist ein arabischer Name. Er bedeutet ‚der Gebildete‘ oder ‚der Weise‘ und das passt zu ihm. Grün, die Farbe der Hoffnung, grünes Auto, mit diesen Gedanken schlief ich ein.

 

Von dort an ging das Heimleben wie üblich weiter, mehrere Tage und Wochen vergingen, doch dann, es war Montag, wir hatten gerade Musik bei Herrn Pablowski, da stand das Ehepaar Brown wieder in der Tür. Diesmal sprach Frau Brown mit ihrer sanften Stimme: „Los, Taha, hol‘ deinen Bruder, packt eure Koffer und kommt!“

 

Ja, jetzt stiegen wir wirklich ein, aber nicht in das quietschgrüne Cabrio, sondern in einen nagelneuen schwarzen Van. Nun sind wir zu einer tollen Familie zusammengewachsen, die niemand je auseinanderbringen kann! Die anfänglichen Zweifel und Ängste bei Theresa und Matthias gegenüber Alim sind restlos verschwunden, jetzt lieben sie ihn über alles und möchten ihn nicht mehr missen. Ohne meinen Bruder Alim hätte ich nicht leben können, er ist mein Halt und lehrt mich fast alles. Deshalb bewundere ich ihn. Nur im Fußball bin ich besser als er und ich glaube, das liegt nur daran, dass er im Rollstuhl sitzt und ich nicht, denn an jenem Tag in Syrien wurde ihm sein rechtes Bein genommen, weil er sich vor mich geworfen hatte, um mich zu retten. 

 

ENDE

 

12 Jahre