„Und es stört dich wirklich nicht?“ Eine zweite Stimme erklang: „Was sollte mich denn stören?“ Das leise rascheln von Kleidung, ein Arm wurde entblößt auf dem drei eingebrannte Zeichen prangten. Ganz oben ein Kreis mit einem Stern darüber, darunter ein P mit einem Pfeil unten dran. Es waren die Zeichen, die ihnen allen auf die Haut gebrannt worden waren, damit sie für alle anderen Menschen erkennbar waren. In diesem Fall waren es Geschlechtsidentität und sexuelle und romantische Orientierung, da sie von dem abwichen, was als „normal“ angesehen wurde. Ein leichtes Kichern war zu hören. „Non-Binary Pansexuell?“, fragte die zweite Person nach. Die erste Person nickte. „ Das heißt, dass du dich weder als Frau noch als Mann fühlst, oder? Natürlich stört es mich nicht!“, meinte die Erste wieder. Erneut ertönte das leise Rascheln von Kleidung und ein zweiter Arm wurde entblößt, auf welchem ein einfacher Kreis und ein P, dasselbe Zeichen, wie bei der ersten Person, eingebrannt waren. Hier jedoch stand eins von ihnen für sexuelle, das andere für romantische Orientierung.

 

Es gab kein Zeichen für die Geschlechtsidentität, da sie in diesem Fall nicht vom „Normalen“ abwich. Die erste Person lächelte. „Ich bin übrigens Charlie“, „Sarah“, antwortete die Andere. Charlie sah sie an und lächelte leicht. „Uhm…“, Sarah zögerte einen Moment, dann fuhr sie fort, „Mit welchen Pronomen kann ich dich ansprechen? Ich habe noch nie…jemanden wie dich getroffen“ Das Lächeln auf Charlies Gesicht wurde noch breiter, xier schien sich über diese Frage tatsächlich zu freuen. „Also…es gibt ja…wenige Varianten an geschlechtsneutralen Pronomen…Ich bevorzuge xier…Ich weiß, das ist gewöhnungsbedürftig, aber wenn du das irgendwie machen könntest…“, sagte xier. Sarah lächelte xier an. „Natürlich mach ich das“, meinte sie. Charlie lächelte ebenfalls. „Und deine? Asexuell Panromantic?“, fragte xier nach. Sarah nickte, dann kicherte sie leicht und lächelte Charlie weiterhin an. „…Seit wann bist du eigentlich hier?“, fragte sie dann, bevor sie sich kurz umsah. Es war relativ dunkel. Die beiden befanden sich in etwas wie einem Lagerraum. Das perfekte Versteck, eigentlich. Es gab etwas zu essen, etwas zu trinken und wenn jemand kommen würde, gab es genug Kisten und dunkle Ecken, in denen man sich verstecken konnte. Charlie hatte Sarah kurz zuvor von der Straße geholt und sie dorthin gebracht. Sie mussten sich verstecken, wann immer sie konnten, so gut wie sie konnten. Immerhin waren sie auf der Flucht. Charlie öffnete gerade den Mund, um ihr zu antworten, als plötzlich die Tür aufschwang. Licht flutete den kleinen, dunklen Raum und fiel auf die beiden.

 

Sie hatten über ihre Unterhaltung nicht gemerkt, wie sich jemand der Tür genähert hatte und nun war es zu spät, um sich zu verstecken. Während der Mann noch geschockt und verwirrt in der Tür stand und die beiden anstarrte, sprang Charlie auf und ergriff Sarah’s Hand, zog sie auf die Beine und sprintete an dem Mann vorbei, aus dem Raum heraus. Charlie zog sie durch einen kleinen Gang, dann durch eine weitere Tür, hinaus auf die offene Straße. Es war der schnellste Weg aus dem Gebäude hinaus und Charlie dachte nicht wirklich nach. Draußen waren Menschen, Menschen, die sie jetzt anstarrten, denn sie fielen auf. Dreckig, zerzauste Haare und zerrissene und abgetragene Kleidung. Mehr konnte man sich nicht leisten, wenn man auf der Flucht vor dem Rest der Welt war. „Mist-„, murmelte Charlie, als xier Sarah dann die Straße entlang zog, xies Blick von einer Seite zur anderen huschend, auf der Suche nach einem Versteck. Sarah, verwirrt und verängstigt, folgte xies einfach so schnell wie möglich, blickte sich ebenfalls um und schrumpfte förmlich unter den angeekelten, fast schon hasserfüllten Blicken der anderen Menschen.

 

Als Charlie um eine Ecke bog, merkte xier jedoch nicht, dass gleich dahinter ein paar Wächter standen, in die xier direkt hinein rannte. Xiese Augen weiteten sich in Panik, als xier die Wächter sah. Sarah schrie auf, als einer der Wächter sie packte. Natürlich hatten diese sofort erkannt, welche Art von Menschen da vor ihnen stand. Ein anderer Wächter ergriff Charlie. Xier wandte sich in seinem Griff, versuchte, nach ihm zu treten und sich los zu reissen, doch er war stärker. Charlie sah noch, wie Sarah, die ebenfalls versuchte, sich zu wehren, weggetragen wurde, bevor xier einen Schlag auf den Hinterkopf bekam und xies schwarz vor Augen wurde.

 

 

Das Ganze lag nun schon fast zwei Monate zurück. Charlie war in ein Lager gebracht worden, oder zumindest nannten die Wächter es so. Täglich wurden sie dort geschlagen, gefoltert sogar, der einzige Lichtblick, für viele von ihnen, war der Tod. Doch sie ließen sie auch nicht sterben. Der Hauptzweck des Lagers schien zu sein, sie vom Rest der Menschheit fern zu halten. Einmal hatte Charlie zwei andere Insassen belauscht. Sie hatten sich über ihr Paradies unterhalten, ein Ort, von dem Charlie auch schon gehört hatte, doch xier konnte daran nicht glauben, es klang zu schön, um tatsächlich wahr zu sein. Es solle einen Ort geben, an dem jeder so ein konnte, wie er wollte, solange er niemand anderen für das, was er war, diskriminieren würde. Oft hatte Charlie schon von diesem Ort geträumt, wie es wohl wäre, dort zu sein, dort jemanden zu finden, mit dem man sein Leben verbringen wollte und dies auch in Frieden zu tun. Aber es war nunmal bloß ein Traum. Oft hatte Charlie auch an Sarah denken müssen, fragte sich, wo sie war, wie es ihr ging, ob sie an einem ähnlichen Ort war, wie xier selbst. Jedoch hatte xier keine Chance das herauszufinden. Die einzigen Personen, die xier theoretisch fragen könnte, waren die Wächter, doch kam man denen zu nahe, schlugen sie einen ohne Fragen zu stellen oder zuzulassen. Gerade noch war xier dabei gewesen, sinnlose Muster in den Staub zu malen, die einzige Beschäftigung, die xier noch hatte, als im Lager plötzlich ein heller Aufruhr losbrach. Charlie runzelte leicht die Stirn, während bereits alle anderen Richtung Eingang eilten.

 

Xier hatte soetwas noch nicht mitbekommen, dafür war xier noch nicht lange genug im Lager. Als eine junge Frau an Charlie vorbeilief, hielt xier sie zurück. „Was ist passiert? Warum laufen alle dahin?“, wollte xier wissen. „Komm einfach mit, schnell!“, antwortete die Frau. Charlie seufzte, folgte ihr aber zum Eingang, wo xier sich durch die Menge drückte um auch etwas von den Geschehnissen zu sehen. Ein silberner Bus fuhr an die Tore heran, eine Wache sprach einen Moment lang mit dem Fahrer des Autos, dann gab er ein Handzeichen zu den anderen Wachen, die daraufhin die Insassen des Lagers zurück und vor allem von der Straße, die weiter ins Innere des Lagers führte, drängten. Sie stießen sie teils mit Waffen, teils mit bloßen Händen zurück. Es interessierte sie nicht einmal wenn einer von ihnen stolperte und hinfiel oder sich irgendwie verletzten. Charlie stolperte ebenfalls als eine der Wachen xies seine Waffe gegen die Rippen stieß um xier zurückzudrängen, doch Charlie wurde von einer der Personen hinter xies aufgefangen, sodass xier nicht auch noch hinfiel. Gerade als Charlie den Blick nach hinten wandte, öffneten sich die Tore und xier hatte gar nicht die Chance, sich zu bedanken, da die Menge schonwieder begann, sich weiter ins Innere des Lagers zu bewegen, so wie der Bus, an den jedoch niemand direkt heran kam, da die Wachen ihn von allen Seiten bewachten. Etwa in der Mitte des Lagers stoppte der Bus und die Türen öffneten sich.

 

Da Charlie während die Menge sich bewegt hatte wieder zurückgedrängt worden war, musste xier nun den Hals strecken, beinahe schon springen um über die Köpfe der anderen hinweg noch etwas zu sehen. Es schienen neue Insassen zu sein, denn es folgte eine Reihe von Leuten, deren Hände zusammengebunden waren, einer Wache aus dem Bus und in das Haupthaus des Lagers. Charlie konnte nur einen kurzen Blick auf die Neuen erhaschen, erkannte aber sofort den blonden Haarschopf relativ am Ende. Xiese Augen weiteten sich und xier drängte sich wieder nach vorne. „Sarah!“, rief xier. Sarah hob ihren Blick vom Boden als sie die Stimme erkannte und blickte sich um. Charlie drückte sich durch die erste Reihe der Insassen und wollte schon auf Sarah zu rennen, doch eine Wache hielt xier auf und rammte xies seine Waffe in den Bauch. Charlie keuchte heftig und sackte zu Boden, krümmte sich, einen Arm um xiesen Bauch geschlungen. Als xier wieder aufblickte, sah xier noch, wie Sarah in dem Gebäude verschwand, oder eher hinein geschoben wurde.

 

Langsam löste sich die Versammlung wieder auf, da sie wussten, dass die Neuen einige Zeit lang da drin sein würden. Nur Charlie kauerte weiterhin auf dem Boden, selbst nachdem die Schmerzen nachgelassen hatten. Xier wollte auf Sarah warten, wollte sie nicht schonwieder allein lassen. Es dauerte gefühlt zwei Stunden, bis die Tür sich endlich wieder öffnete und die Neuen, zehn an der Zahl, hinausgestoßen wurden. Charlie blickte auf und als xier Sarah erblickte, sprang xier auf die Beine und rannte zu ihr hinüber. Sarah kam xies ein Stück weit entgegen und schlang ihre Arme um xiesen Hals als sie nah genug war. Charlie legte die Arme um Sarahs Taille und zog sie seufzend an sich. „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht…wo haben sie dich hingebracht nachdem sie uns geschnappt haben?“, fragte Charlie und blickte sie an. „In ein anderes Lager…aber das war ziemlich voll also haben sie mich und die anderen jetzt hierher gebracht“, antwortete Sarah. Charlie sah sie an. „Wenigstens weiß ich jetzt, dass es dir gut geht…den Umständen entsprechend“, meinte Charlie. Sarah nickte. „Dir auch, oder?“ Nun nickte Charlie. „Natürlich“, meinte xier mit einem leichten Lächeln, „Komm mit, du siehst erschöpft aus, wir sollten schlafen gehen“, meinte Charlie. „Okay“, Sarah nickte und ließ Charlie sie zu ihrer Schlafkammer führen.

 

Und nicht im mittelalterlichen Sinne eine Schlafkammer, es war tatsächlich bloß eine kleine Kammer, in der vier harte Betten nah aneinander gepresst standen und in der kaum Platz für irgendetwas anderes war. Bisher war eines der Betten frei gewesen, worüber die dort untergebrachten Insassen eigentlich ganz froh gewesen waren, doch sie verstanden es auch, als Charlie ihnen die Situation erklärte und hießen Sarah mehr oder weniger in ihrer Mitte willkommen.

 

Es war Mitten in der Nacht, als Charlie plötzlich von einem lauten Knall geweckt wurde. Sofort saß xier aufrecht im Bett. Durch das kleine Fenster der Kammer schien ein rötliches Licht. Charlie runzelte leicht die Stirn, dann ergriff xier Sarah’s Schulter und schüttelte sie sanft, um sie zu wecken. „Was? Ich bin wach- bin wach“, murmelte Sarah verschlafen, als sie sich aufsetzte, die blonden Haare noch zerzauster als sonst. „Was ist los?“ Charlie schüttelte als Antwort nur den Kopf, xier wusste keine Antwort. „Komm mit“, meinte xier dann, stand auf und zog Sarah mit sich nach draußen. Es herrschte das pure Chaos, die Wachen rannten in heller Aufregung umher, während die Insassen an der Seite, eher noch direkt vor ihren Kammern standen und das Geschehen betrachteten.

 

Das Haupthaus stand in Flammen und in einiger Entfernung konnte man auch die zerstörten Tore des Lagers sehen. Charlie brauchte einen Moment, um alles zu realisieren, dann rannte xier auf die zerstörten Tore zu, noch immer Sarah’s Hand haltend und sie hinter sich her ziehend. Sarah stolperte etwas, folgte Charlie jedoch so schnell sie konnte. Noch bevor die Wachen sich genug sammeln konnten, dass sie die Insassen im Lager halten konnten, hatten Charlie und Sarah die Grenzen des Lagers hinter sich gelassen, jedoch als einzige. Charlie zog sie weiter durch den Wald, immer weiter, um genug Abstand zwischen sie beide und das Lager zu bringen. Doch ihr Verschwinden blieb nicht unerkannt. Schon nach wenigen Sekunden hörten sie Schüsse. Zu ihrem Glück jedoch schlugen die Kugeln zuerst nur in die Bäume neben sie ein, bis Sarah am Bein getroffen wurde. Sie schrie auf und stolperte, woraufhin sie zu Boden fiel. Charlie stoppte und lief schnell zu ihr zurück. Xier ergriff Sarahs Arme und zog sie schnell wieder auf die Beine. „Komm schon! Wir müssen es nur bis zu den Bahngleisen schaffen!“, meinte xier. Sarah nickte schwach und legte einen Arm um Charlies Schulter, während Charlie einen Arm um Sarahs Taille schlang, um ihr zu helfen wenigstens etwas schneller zu laufen, doch Sarah konnte nur noch humpeln. Sie konnten bereits die schweren Schritte der Wachen hinter sich hören. „Nur noch ein bisschen!“, meinte Charlie, sah sich jedoch kurz panisch um.

 

Die Bahngleise waren bereits in Sicht. „Ein biss-“, Charlie schrie auf als xier an der Schulter von einer Kugel getroffen wurde, doch xier lief immer weiter. Ein Zug fuhr langsam über die Gleise und Charlie beschleunigte xies Schritte noch. Sarah war schwer am keuchen, ihr Bein blutete stark, die Kugel musste glatt durchgegangen sein. „Komm jetzt“, sagte Charlie. Sie erreichten den Zug und liefen kurz neben ihm her, als sie versuchten, in den leeren Wagon zu klettern. Charlie half Sarah hinauf, als Sarah sich jedoch umdrehte, um Charlie in den Wagon zu helfen, traf sie erneut eine Kugel und sie fiel nach hinten. Charlie konnte nicht genau sehen, wo sie getroffen wurde. „Sarah-“, keuchte xier, sah noch einmal zurück, nur um zu sehen, wie die Wachen in Massen aus dem Wald heraus brachen. Xier hievte sich in den Wagon hinein, wobei xier jedoch von einer Kugel im Rücken getroffen wurden. Mit einem kurzen Schmerzensschrei kippte xier vornüber, dadurch jedoch nur in den Wagon herein. Bevor xier durch die Schwerkraft wieder hinaus rutschen konnte ergriff Sarah xiese Arme und zog xier in Sicherheit. Charlie hob den Kopf und blickte Sarah keuchend an. Xier lächelte leicht und Sarah erwiderte das Lächeln. „Wir haben es geschafft…“, meinte xier. Sarah sah xier an und lächelte noch immer. Sie ergriff xiese Hand, doch nach wenigen Sekunden wurde ihr schwarz vor Augen und sie wurde ohnmächtig. Charlie sah sie noch kurz an, wollte etwas sagen, doch dann verlor auch xier das Bewusstsein.

 

 

Es musste Stunden später sein, als Charlie die Augen wieder öffnete. Xier kniff die Augen zusammen, als xier von einem hellen Licht geblendet wurde. Die Schmerzen waren verschwunden, doch xier fühlte noch immer Sarahs Hand in xieser. Charlie setzte sich auf. Sie waren noch immer in den Wagon, in den ein helles, weißes Licht schien. Sarah wachte nun ebenfalls auf und richtete sich nach wenigen Sekunden auf. Charlie blickte sie an und lächelte. „Wir habens geschafft“, meinte xier.

 

„Das Paradies…“      (15 Jahre)