Die Flucht und das Meer

"Ich werde euch vermissen." Das war der letzte Satz, den ich zu meiner Familie gesagt hatte.

Jetzt saß ich hier, am Bug eines Schiffes, auf dem ich gar nicht sein wollte. Ich blickte auf das Meer, das man eigentlich nicht mehr so nennen konnte. Es war derart voller Plastik, alter Fischernetzten und toten, an der Oberfläche schwimmenden Fischen, dass man das eigentlich so klare, blaue und schöne Meer nicht mehr sah.

Ich hielt mich an einem Seil fest, da das Schiff stark schwankte und ich Angst hatte, ins Wasser zu fallen.

Meine Eltern hatten mich auf das Schiff geschickt, damit ich sicher an einen anderen Ort kam. Irgendwo hin, wo es friedlicher war und nicht so viel gekämpft wurde. Ob ich lebend ankam, war niemandem klar. Meine Eltern und meine zwei großen Brüder waren in unserem Heimatland geblieben. Sie wollten nachkommen, wann immer sie mehr Geld für die Schleuser aufbringen konnten. Das konnte bei unserer aktuellen Lage jedoch noch etwas dauern. Ich war erst seit kurzem von ihnen getrennt, doch ich vermisste sie und ihre liebevolle Art, in allem das Gute zu sehen. Das war eine Eigenschaft, die ich nicht hatte. Ich würde nie lebend ankommen.

Das Schiff, oder eher übergroßes Gummiboot, schaukelte stark auf den Wellen. Ein paar Schreie waren zu hören und ein Baby schrie auf dem Arm seiner Mutter, die neben mir saß. Sie hielt es noch enger umschlungen und fing an zu weinen. Sie war noch sehr jung, nicht viel älter als ich.

Plötzlich kam eine noch größere Welle auf uns zu und das Boot machte einen Sprung. Der Junge rechts neben mir fiel ins Wasser. Ich erschrak, drehte mich um und hielt ihm die Hand hin. Ich sah die Panik und die Angst in seinen Augen und merkte, dass er nicht schwimmen konnte. Ich packte seinen linken Arm und zog ihn hoch. Er fasste das Seil am Rand des Schiffes und stemmte sich nach oben. Als er wieder halbwegs sicheren Halt hatte, ließ ich seinen Arm los. Er schaute mich an und versuchte, zu lächeln, was in dieser Situation jedoch eher verkrampft aussah. Er kletterte zurück auf das schon oft geflickte Boot und saß sich wieder hin.

Viele Personen, die ebenfalls an Bord waren, hatten diesen Zwischenfall gar nicht bemerkt, denn es fiel ständig jemand ins Wasser. Doch nicht jeder konnte gerettet und zurück an Bord gehievt werden. Viele waren schon ganz am Anfang der endlos scheinenden Reise ins Meer gefallen und vermutlich ertrunken. Doch ich durfte die Hoffnung nicht verlieren.
Ich musste ankommen! Mir war egal wo oder wann, solange ich es lebend tat.

Ich schaute zu dem Jungen, dem ich gerade vermutlich das Leben gerettet hatte. Er sah mich mit seinen dunkelbraunen Augen dankend an.

Was wäre, wenn ich auch über Bord fallen würde und mir niemand helfen könnte? Würde ich sterben? Schwimmen konnte ich genau so wenig wie die meisten aus meiner Heimat. Hätte ich es gelernt, wären meine Überlebenschancen jedoch auch nicht viel höher, denn die Strömungen und der ganze Müll auf dem Meer würden einen wie durch einen riesigen Sog einfach unter Wasser ziehen und man würde jämmerlich ersticken oder ertrinken.

Meine Brüder oder meine Eltern hätten mich jetzt in den Arm genommen, wären sie hier gewesen. Ich vermisste sie noch stärker als vorher und wünschte mich zum wiederholten Mal von diesem Schiff herunter und zurück zu meiner Familie.
Aber ich war auch dankbar. Da ich die erste war, die sie losgeschickt hatten und für die sie ihr gesamtes Ersparnis ausgegeben hatten, musste ich etwas Besonderes für sie sein.

Mir liefen Tränen über die Wangen und ich bemerkte gar nicht mehr, wie gefährlich das Schiff wieder wankte. Ich schaute direkt auf die Menschenmenge, die sich auf dem ganzen Boot zusammen drängte. Einige wenige standen, was sie jedoch bei jeder noch so kleinen Welle zum Umfallen brachte.

Das Baby neben mir schrie immer noch und es tat mir schrecklich Leid. Jedoch falls es lebend am Festland ankam, konnte es sich, wenn es älter wurde, nicht an den schrecklichen Krieg und die wilde Flucht erinnern. Ich sah wieder auf das Wasser.

Der Müll schwamm nur knapp unter der Wasseroberfläche, sodass man ihn klar und deutlich erkennen konnte. Ich schaute mich noch einmal um, so weit wie es ging. Ich sah kein Land, ich konnte nicht mal eines erahnen. Wie lange würden wir noch auf dem Meer schwimmen, bis ein Boot uns aufnahm oder wir an Festland trafen. Vermutlich noch sehr lange. Wir waren jetzt schon über drei Tage unterwegs, wie lange genau, wusste ich nicht. Desto länger wir durch das Meer schipperten, umso mehr verlor ich mein Zeitempfinden. Ich wusste nur, wann Tag und wann Nacht war.
Mein Magen knurrt laut und die junge Mutter neben mir schaute mich an. Sie hatte dasselbe stechende Hungergefühl wie ich.

Plötzlich sah ich ein blaues Licht aufleuchten. Es war sehr grell und ich wusste nicht, woher es kam, doch es weckte Hoffnung in mir. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der ich es vermutete. Und mein inneres Ich machte einen Freudensprung. Dort war tatsächlich ein weißes Rettungsschiff. Ein Mann stand mit einem Megafon an der Reling und sagte etwas. Ich verstand es leider nicht und als ich mich umschaute, merkte ich, dass es die meisten anderen auch nicht verstanden hatten. Ein anderer Mann trat ebenfalls an die Reling. Doch dieser fuchtelte wild mit den Armen und deutete auf eine alte, rostige Metallleiter.

 

Sollten wir hochklettern? Einige, die am anderen Ende unseres Gummibootes standen und somit näher am Rettungsschiff waren, stiegen die Leiter hoch.

Bis ich an der Reihe war, konnte es noch lange dauern, weswegen ich sitzen blieb. Die meisten anderen waren schon aufgesprungen und drängelten eilig näher zum Rettungsschiff.

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie über eine Leiter oder nur ein Schiff so froh gewesen. Ich war langsam jede Sprosse hinauf geklettert und als nach mir die junge Mutter an der Reihe war, nahm ich, bis sie auch oben angekommen war, ihr Baby entgegen. Es hatte mich mit großen hellblauen Augen angeschaut und ich hatte direkt angefangen, zu lächeln.

Als seine Mutter es wieder an sich nahm, wog sie es langsam in ihren Armen und fing an, leise eine Melodie zu summen. Sie klang schön und war sehr einprägend. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gehört, doch ich kam nicht drauf, wo.

Das Schiff, auf dem sich nun alle befanden, setzte sich in Bewegung. Der Motor ruckelte laut und das Wasser spritzte in hohen Wellen am Boot entlang.

Hier gab es mehr Platz und man konnte spüren, wie alles etwas entspannter war.

Wir waren nun schon mehrere Stunden auf diesem Schiff, doch Land konnte ich immer noch nicht sehen. Wie weit waren wir noch entfernt? Ich hätte gerne jemanden gefragt, aber ich verstand ihre Sprache nicht.

Die Wellen und der Himmel sahen jetzt weniger düster aus, obwohl schwarze Wolken am Himmel hingen. Generell wirkte vieles fröhlicher. Ich hatte mich auch auf dem Schiff noch einmal umgesehen. Den Jungen, dem ich das Leben gerettet hatte, konnte ich nicht mehr finden. Ebenso wenig die junge Mutter mit dem kleinen Baby. Mir ging die Melodie, die sie gesummt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Andauernd dachte ich, sie irgendwo gehört zu haben, doch immer, wenn ich mich umdrehte, verstummte sie plötzlich. Ich ging an der Reling entlang, einmal um das ganze Schiff herum. Die Melodie begleitete mich, obwohl ich aufgegeben hatte, sie zu suchen.

Stammte sie überhaupt von der Frau oder hatte ich mir das eingebildet? An der hinteren Spitze des Schiffes blieb ich stehen und lehnte mich gegen das Geländer. Es war niedrig und ich hatte für einen kurzen Moment die Befürchtung, ins Wasser zu fallen. 

Plötzlich zuckte ich zusammen, da es laut donnerte. Der Blitz folgte direkt danach und schlug ins Meer ein. Das Wasser wurde für einen kurzen Moment hell und man hätte bestimmt tiefer bis auf den Grund blicken können, wäre da nicht die dicke Schicht aus Abfall gewesen.

Das Schiff schaukelte und ein paar Schreie waren zu hören. Ich hoffte, dass niemand ins Wasser gefallen war, doch was ich sah, schockte mich so sehr, dass ich unfähig war, zu schreien.
Ich stand also still und bewegungslos am Heck des Schiffes, schaute auf das Wasser und sah direkt in die großen, hellblauen Augen eines Babys. Ich erkannte es. Es war dasselbe, das mich vorhin das erste Mal seit über drei Tagen wieder zum Lächeln gebracht hatte.

Auf einmal wurde es ganz still, selbst die Melodie hörte ich nicht mehr. Das Baby schaute mich hoffnungsvoll und traurig zugleich an. Ich überlegte einen Moment, ob ich hinterher springen sollte.
Ich konnte nicht schwimmen, doch ich konnte es nicht ertrinken lassen. Ich rannte zur gleichen Leiter, auf der ich vorhin auf dieses Schiff geklettert war. Die Mutter des Kindes hatte wohl dieselbe Idee gehabt und war ebenfalls zur Leiter gerannt. In ihren Augen sah ich aber, dass sie anscheinend keine Hoffnung mehr hatte. Sie sah mich für einen kurzen Moment an, doch dann kletterte sie selbst die rostige, weiß lackierte Leiter hinab und ließ sich ins Wasser fallen. Innerlich betete ich dafür, dass sie schwimmen konnte, doch ihr wildes Paddeln mit Armen und Beinen bewies das Gegenteil. Sie versuchte mühevoll, bis zu ihrem Kind zu gelangen, doch sie schien ebenfalls unter zu gehen.

Ich kletterte die Sprossen hinab und ließ mich, genauso wie die unterzugehen drohende Mutter kurz vorher, in das kalte Wasser fallen. Ich wusste zwar, dass ich ebenfalls nicht schwimmen konnte, doch ich konnte nicht tatenlos zu sehen.

Ich schwamm zu dem Baby und hielt es fest und wunderte mich kurz, dass ich nicht auch schon untergegangen war, jedoch konnte ich mich darüber nicht beschweren. Ich paddelte zurück zur Leiter, auf der der Junge von vorher ein paar Sprossen hinunter geklettert war. Ich gab ihm das Baby. Anschließend drehte ich mich wieder um, um der jungen Mutter zu helfen, als auf einmal ein lautes Donnern zu hören war und kurz danach der Blitz in das Meer einschlug.
Ich spürte langsam das kalte Wasser an meinem Kopf hochsteigen und merkte, wie es dunkler und dunkler wurde.  (13 Jahre)