Begegnung mit dem Leben

 

Jede Wasserperle, die auf den Boden aufschlug und sich in den Abfluss schlängelte, erinnerte sie an die zerbrochenen Scherben. An das rot gefärbte Wasser. An den dumpfen Schrei. Wie alles vor ihren Augen verschwamm. Als die dünne Tränenwand sich schützend um sie legte. Ihren Wunsch, weit weg zu sein, teilnahmslos über allem zu schweben.

 

Doch es gab kein Zurück mehr. Kein Zurück in die perfekte Welt.

 

Eine Seele hatte die Erde verlassen, eine andere zerbrochen.

 

Doch war ihre Seele nicht ungebunden. Sie hatte nicht mehr die zarten Flügel eines Schmetterlings. Zerbrochen waren sie bei dem Anblick, in abertausende Teile, als sie in das Gesicht ihrer toten Mutter blickte.

 

Sie bemerkte, dass die Hülle zerbrochen war. Hatte begonnen abzubröckeln. Wie konnte sie die Scherben aufsammeln? Die Teile wieder zusammenkleben?

 

Perfekt, so war ihr Leben einmal gewesen.

 

Als bohrten sich tausende Glassplitter in ihr Herz. Als wuechsen Pflanzen um ihr Herz, ließen ihr keinen Platz zum Atmen.

 

Obwohl es nun genau fünf Tage her gewesen war, fühlte sich alles noch so nah an. Konnte sie es fühlen den Duft der Vergänglichkeit. Sie sah es vor sich wie ein Film, gefangen in der Endlosschleife der Ewigkeit.

 

 

 

Doch durfte sie es sich erlauben diese Schwäche zu zeigen?

 

Sie müssen nicht perfekt sein, hatte sie gesagt, konzentrieren sie sich auf ihre wahren Gefühle.

 

Doch sie wusste es, war sie nicht mehr das Mädchen, mit den perfekten Maßen, dem makellosen Aussehen, dem glänzenden Haar, dann wäre sie eine andere.

 

Jemand der sie nicht sein wollte. Doch etwas war anders, sie war anders.

 

 

 

Wenn sie nicht glücklich in die Kamera lächelte, wenn die Haare nicht perfekt waren, die Haut nicht rein genug. Die Haare nicht lang genug. Die Wimpern nicht geschwungen?

 

Was dann, war sie immer noch perfekt?

 

 

 

Ihre Schritte halten auf dem nassen Boden wieder.

 

 

 

Sie versuchen es zu überstreichen, wie eine schwarze Stelle an einer weißen Wand.

 

Eine Entscheidung die ihr abgenommen wurde. Eine Erinnerung, als ein Teil ihrer Seele, der sich nicht verändern ließ.

 

 

 

In dem Moment in dem ihre Mutter entschied zu gehen, hatte sie eine Entscheidung für ihre Tochter getroffen.

 

 

 

Zwei Leben die über den Tod hinaus mit dünnen Fäden verstrickt sind.

 

 

 

Hatte es doch so perfekt gewirkt, die Welt, ihre kleine perfekte Welt.

 

Ein berühmtes Modell ein reicher Geschäftsmann. Ein Ehepaar und eine Tochter.

 

 

 

Doch warf man einen Blick hinter die Fassade, erkannte man zwei Menschen, dessen Liebe schon seit langer Zeit erloschen war, einen einsamen Schwan in einem Meer voller Fische.

 

 

 

Der rote Feuerball versank am Himmel, als sie auf die flackernden Lichter der Tankstelle zulief. Den ganzen Tag war sie ziellos umhergeirrt.

 

 

 

Als ihre Augen über die Etikettaufschriften der Flaschen glitten, wusste sie nicht, dass alles so begonnen hatte.                                                   

 

Mit einem schwachen Tag, an dem man versuchte seinen Kummer in Hochprozentigem zu ertränken, mit dem Unwissen, dass er niemals verschwinden würde.

 

 

 

Die zittrigen Hände einer Frau legten sich auf ihre Schultern. Ihre Augen glasig und milchig.     

 

Trauer und Reue lag in ihrem Blick. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen.

 

 

 

„Lass dich durch die Stricke der Trauer nicht erwürgen.

 

Lebe. Sieh doch, was mit mir geschah, ein einziger Gedanke hat meinen Boden zum Bröckeln gebracht. Jeder Schluck hat sie von mir weggetrieben. Du bist nicht schnell genug, um der Dunkelheit zu entkommen. Lebe!“, sagte die Fremde und blickte scheinbar durch sie hindurch. Lächelte traurig und griff zu einer Flasche, als hätte sie niemand bei ihrer täglichen Routine gestört.

 

 

 

Die Worte jedoch hallten in ihrem Kopf nach. Ließen sie nachdenken.                                                                                             

 

 

 

Warum glaubte sie ihre Trauer würde sie ersticken?

 

Warum dachte sie, sie sei nicht stark genug?

 

Warum glaubte sie, perfekt sein zu müssen?

 

Warum durfte sie keine Fehler machen in dem Tunnel der tausend Augen?

 

Warum durfte sie nicht leben?

 

 

 

So dachte sie, während sich die flackernden Lichter entfernten. Weit weg nun waren die Flaschen und die Fremde, geblieben war die Erinnerung an die Worte.

 

 

 

Und mit der Zeit begannen sich die Splitter wieder zusammenzusetzen…

 

 

 

15 Jahre