Flaschenpost

von

Marie Dettmar

Wenn jemals ein Mensch diese Flaschenpost öffnet und diesen Brief  liest, bitte ich ihn, mir diese Geschichte zu glauben und niemals an der Wahrheit zu zweifeln. Es ist wirklich passiert.

Wasser spritzte auf und hier und da sah ich die schreckensgeweiteten Gesichter meiner Familie und die meiner Freunde. In dem Getöse, das um mich herrschte, hörte ich kaum die verzweifelten Schreie meiner geliebten Schwester Lilli. Meine Familie und viele andere aus unserem Dorf in Uganda waren durch Libyen nach Tunesien gewandert und von dort aus mit einem klapprigen Boot aus unserer Heimat geflohen. Und jetzt, so kurz vor Lampedusa, unserem langersehnten Ziel, war das Boot gesunken.

Ein paar meiner Verwandten hatten ein Feuer an Deck angezündet, um die Küstenwache auf sich aufmerksam zu machen. Kurz darauf hatte das Segel Feuer gefangen und alle waren panisch auf die linke Seite des Bootes gerannt, aus Angst verbrannt zu werden. So war das Schiff untergegangen und wir mit ihm. Keiner von uns konnte so richtig schwimmen und so waren wir dem tosenden Wasser ausgesetzt.  Die Hand meiner Schwester packte mich an der Schulter und bald sah ich ihr ängstliches Gesicht vor mir. „Was sollen wir machen?“, rief sie mir zu. „Einfach nur zusammen bleiben. Wenn ich sterben muss, möchte ich es mit meiner Zwillingsschwester tun.“ Ich schrie fast. Wir klammerten uns aneinander und blickten unserem bevorstehenden Ende entgegen. Aber die todbringende Welle erreichte uns nicht. Vier kräftige Hände packten uns und zogen uns aus dem Wasser. So konnten wir über die Wasseroberfläche sehen und das, was wir sahen, verschlug uns den Atem. Unsere Eltern wurden von vier Rettungsschwimmern aus dem Wasser gezogen. Sie waren blass und bewegten sich nicht. Unsere Eltern waren tot. Auch die vier Männer hatten nichts mehr für sie tun können.

Verzweifelt versuchte ich mich aus dem Griff meines Retters zu entwinden, um zu meinen Eltern zu kommen, doch es gelang mir nicht. Seine Hände schlossen sich wie Eisenketten um meinen Körper. Ich wusste, er wollte mir nur Gutes tun, indem er mich nicht zu meinen Eltern lies, aber der Schmerz um den Tod meiner Eltern vernebelte mir die Sinne und ließ nichts als Trauer zurück. Neben mir zappelte meine Schwester und ich wusste, dass sie das Gleiche dachte wie ich. Mein Körper erschlaffte und machte es dem mich haltenden Mann schwer mich über Wasser zu halten.

„Kevin, Greg! Zieht die beiden Kleinen ins Boot. Wir starten! Und lasst sie endlich zu ihren Eltern!“ Ich erschrak, als ich diese unnatürlich tiefe Stimme hörte. Und doch gab sie mir Geborgenheit und ließ mich sicher fühlen. Dieser Mann erweckte Vertrauen in mir. Ich blickte mich suchend nach dem wundervollen Mann um und entdeckte ihn am Steuer des Bootes. „Greg! Lass verdammt noch mal das arme Mädchen zu ihren Eltern!“ Sofort ließen mich die Hände los und ich stürzte zu den Leichen meiner Eltern. Lilli kniete schon bei ihnen. Als sie mich sah, fiel sie mir um den Hals und weinte. Und ich weinte mit. Unsere Eltern waren tot. Ich konnte es nicht glauben.

Ruckartig hielt das Boot an. Die vier Männer, die unserer Eltern geborgen hatte, trugen sie von Bord. Wir, nicht wissend, was wir tun sollten, blieben zurück. Langsam leerte sich das Boot und am Ende waren nur noch meine Schwester, der Mann am Steuer und ich da. Er kam auf uns zu und sagte: „Steht hier nicht so rum. Ihr müsst dem Mann im roten Anzug folgen, er bringt euch ins Flüchtlingslager.“ Merkwürdigerweise sprach er auf Englisch mit uns. Ich brachte ein zitterndes: „Webale nyo“ hervor, was auf Luganda, unserer Muttersprache „Danke“ heißt. Natürlich dachten wir nicht daran dem Mann im roten Anzug zu folgen und ins Flüchtlingslager zu gehen. Heimlichen stahlen wir uns davon und rannten durch die Gassen. Wir kamen auf dem Markt an und sahen uns nach einem Obststand um. Wir stellten uns an der Schlange an und warteten. Als wir endlich dran waren, rief die dicke Obstverkäuferin angeekelt: „Iihh! Schwarze! Fasst mein Obst bloß nicht an. Euch gebe ich nichts. Haut ab!“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und rannten weg.

In einer dunklen Gasse stoppte meine Schwester. „Wohin sollen wir? Keiner will uns.“ Verzweifelt sah sie mich an. „Nicht alle, Lilli! Die Bäckerin hat mich freundlich angeblickt. Komm, wir versuchen es bei ihr. Vorsichtig schlichen wir wieder zurück. Hinter dem Lastwagen der Bäckerin angekommen, knieten wir uns hin. Ganz leise machten wir die Bäckerin auf uns aufmerksam. Unauffällig ging sie hinter den Wagen und auf uns zu. „Seid ihr Flüchtlinge? Wo sind eure Eltern?“ Sie fragte es nicht misstrauisch, sondern sorgenvoll und freundlich. Mit Zeichensprache gab Lilli ihr zu verstehen, dass unsere Eltern tot und wir Flüchtlinge waren. Die Bäckerin sagte: „Oh, mein Gott! Ihr Armen, kommt mit in den Lastwagen. Ich gebe euch Essen und Trinken mit. Ihr könnt hier nicht bleiben. Viele hassen Flüchtlinge so wie euch. Aber sagt mir eins: Wie heißt ihr?“ Wir sagten wie aus einem Mund: „Lilli und Lucy.“ – „Ah, Okay! Und ihr seid Zwillinge?“ – „Yes!“ – „Na gut! Kommt mit!“ Sie führte uns in den großen Lastwagen und zwischen vielen Kisten hindurch. Ganz vorne im Lastwagen blieb sie stehen, bückte sich und holte eine alte Ledertasche hervor. „ Hier, die könnt ihr haben! Wartet, ich hole noch etwas zu trinken. Essen ist schon drin.“ – „Danke!“, meine Schwester sah sie erleichtert an. Die Bäckerin verschwand kurz zwischen den Kisten und tauchte kurz darauf mit zwei prallgefüllten Lederbeuteln wieder auf. Sie reicht uns jeweils eine, gab uns auch die Ledertasche und redete ernst auf uns ein: “Wenn euch jemand unfreundlich vorkommt, rennt einfach weg und geht ihm aus dem Weg! Ich bin jeden Tag auf dem Markt. Sagt mir Bescheid, wenn etwas passiert ist. Ich wünsche euch viel Glück!“ Mit diesen Worten umarmte sie uns und verabschiedete sich. Wir bedankten uns und gingen schnell in eine Gasse.

Zwei Wochen später: Ich schlug die Augen auf. Neben mir lag meine Schwester. Auch sie war wach geworden und starrte nach oben. Wir hatten unter einer Brücke übernachtet. Ich streckte meine Glieder und meine Schwester tat es mir gleich. Wir packten unsere Sachen und liefen los. Gerade gingen wir durch eine einsame, menschenleere Straße, als wir ihn sahen. Er lief ein paar Meter vor uns. Der Mann mit der tiefen Stimme. Wir rannten hinter ihm her und tippten ihm auf die Schulter. „Was? Ach ihr? Was macht ihr denn hier?“ – Schnell erzählten wir ihm die ganze Geschichte, mehr oder weniger in Zeichensprache. Er verstand.

„Hey Lucy! Aufwachen! Und du auch Lilli! Wir wollen doch pünktlich bei der Bäckerin sein!“ Ich streckte mich und starrte aus dem Fenster. Meine Schwester und ich hatten bei Martin, dem Mann mit der tiefen Stimme, eine neue Familie gefunden. Wir lebten bei ihm und halfen ihm bei seiner Arbeit. Heute wollten wir die Bäckerin besuchen. Ich setzte mich noch gerader auf in meinem Bett. Ich bemerkte ein komisches Gefühl. Es war Glück. Zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern war ich glücklich, einfach nur glücklich.

11 Jahre (Marie)