Vier „Erste“ Begegnungen

 

Es war dunkel. Ich kann mich genau an das tiefe Schwarz erinnern, das mich viele Wochen umgab. Ich hatte oft versucht, der Dunkelheit zu entkommen, scheiterte aber jedes Mal, da ich nicht die geringste Ahnung hatte, wohin ich fliehen konnte, um endlich wieder Farben sehen zu können. Doch an einem unscheinbaren Tag hörte ich plötzlich ein leises Geräusch. Es klang stumpf und war auch so schnell wieder vorbei, wie es angefangen hatte. Doch danach hörte ich immer mehr von diesem Geräusch und es wurde immer lauter. Es waren Stimmen! Ich konnte meinem Gehör fast nicht glauben. Trotzdem widmete ich meine gesamte Konzentration der immer klarer werdenden Stimme, die ich allmählich immer besser verstand. „Gehirntrauma…schwach…Koma…vier Wochen“, gab die weibliche Stimme von sich. In meinem Versuch die verwirrenden Wörter zu verstehen, bemerkte ich nicht, dass sich meine Umgebung immer mehr aufhellte. Langsam fiel mir die Veränderung um mich herum auf und ohne jegliche Vorwarnung riss ich meine Augen auf. Diese musste ich jedoch unmittelbar weder schließen, da meine Augen bereits seit Wochen nicht mehr in den Genuss von Licht kommen durften und sie durch das grelle Licht schnell überfordert waren. Nachdem sie sich an das Licht gewohnt hatten, bemerkte ich als erstes, dass alles um mich herum weiß war. Weiße Wände, weiße Bettbezüge und weiße Schränke. Als zweites fiel mir der Geruch von Desinfektionsspray auf. Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich in einem Krankenhaus war. Als ich mir gerade darüber Gedanken machen wollte, warum ich wohl hier gelandet bin, öffnete sich die Tür. Herein kam eine junge Frau, die begann, in einer am Boden liegenden Tasche rumzuwühlen. Sie bemerkte nicht, dass ich wach war. Das war nicht weiter überraschend, denn ich konnte mich weder bewegen noch meine Stimme gebrauchen, die von einem in meinem Hals befindlichen Schlauch am Sprechen gehindert wurde. Langsam bewegte sich die Frau auf mich zu. Sie schrie kurz auf, als sie sah, dass meine Augen nicht wie sonst geschlossen, sondern geöffnet waren. Schnell rannte sie aus dem Zimmer, während sie laut schrie: „Doktor, Doktor, er ist aufgewacht!“

 

 

 

Erste Begegnung: Ich lasse meinem Kopf erschöpft auf das Kissen fallen. Nach dem ganzen Tumult ist mein ohnehin schon schwacher Körper vollkommen fertig. Noch immer kann ich es nicht fassen, dass ich anscheinend von einer Brücke gestürzt bin und aus diesem Grund ein starkes Gehirntrauma erlitten habe. Der Arzt, dessen Name ich bereits vergessen habe, sagte, dass ich neben einem ziemlich zerbeulten Körper auch noch an Gedächtnisverlust leide, was ihm klar wurde, nachdem ich ihm nicht beantworten konnte was denn mein Namen sei. Er meinte, dass er sich nicht sicher sei, ob ich mein Gedächtnis wieder vollständig zurückbekommen werde. Ich hoffe sehr, dass meine Erinnerungen bald wieder zurückkehren, da es mich doch sehr bedrückt, nicht zu wissen wer genau ich bin. Plötzlich spüre ich, wie meine Augenlieder immer schwerer werden und in wenigen Augenblicken in einen tiefen Schlaf fallen werden. Mein letzter Gedanke befasst sich mit der Frage, wer wohl die Frau ist, die den Arzt gerufen hat. Erst das Öffnen einer Tür weckt mich sieben Stunden später auf. „Jackson? Bist du wach?“, fragt eine tiefe Männerstimme. Langsam öffne ich meine Augen, die den Anblick eines ca. 25 Jahre alten Mannes erkennen. Ich setze mich aufrecht hin, um ihm zu zeigen, dass ich in der Tat wach bin. „Geht es dir gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?“, fragt er hektisch. Ohne zu zögern frage ich: “Wer bist du und woher kenne ich dich?“. Sofort verändert sich seine Mimik in einen mit Trauer erfüllten Ausdruck: „Du kannst dich also wirklich an nichts erinnern. Also, mein Name ist Oliver und, um deine zweite Frage zu beantworten, ich bin dein Bruder. Oder besser gesagt Halbbruder.“ „Kannst du mir vielleicht erklären, aus welchen Gründen ich von der Brücke gestürzt bin? Der Arzt hat mir keine Details gegeben.“, fragte ich Oliver. Er zögert, antwortet aber nach einer kurzen Pause: „Niemand weiß genau, warum du von der Brücke gestürzt bist. Es gibt keine Zeugen und da du keine Erinnerungen an das Geschehen hast, können wir momentan nur spekulieren.“ Ich nicke stumm, enttäuscht darüber, dass auch er mich nicht aufklären kann. Wir führen noch ein paar Minuten etwas Smalltalk, bis Oliver sich verabschieden muss, da die Besuchszeiten vorbei sind. Obwohl ich erst vor 30 Minuten aufgewacht bin, spüre ich, wie mein Körper langsam abschaltet und dem Verlangen nach Schlaf nachgibt.

 

Zweite Begegnung: Dieses Mal wache ich ohne jegliche Störungen auf. Es ist bereits Mittag, wie ich auf der Digitaluhr neben meinem Bett erkennen kann. Zuerst verläuft der Tag ganz normal. Der Arzt, dessen Name ich mir immer noch nicht merken kann, kommt ein paar Mal vorbei, um meine Werte zu kontrollieren. Und, da mein Körper immer noch sehr schwach ist, verbringe ich den Großteil des Tages mit Schlaf. Erst, als es bereits langsam dunkel wird, kommt mich erneut jemand besuchen. Ich erkenne sie sofort. Es ist die junge Frau, die den Arzt gerufen hatte. Sie schließt die Tür leise und schließt die Lücke zwischen ihr und dem Bett mit hastigen Schritten. Ich wollte sie gerade fragen, was sie hier wolle, da fragt sie mit besorgter Stimme: „Geht es dir besser? Du hast doch noch niemanden davon erzählt, oder? Du weißt ja, dass es keine Absicht war.“ Sie blickte mit großen und panischen Augen auf mich herab. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. „Wovon reden Sie?“, frage ich verwirrt. Zuerst schaut sie mich mit einem ebenso verwirrten Blick an, der sich aber schnell zu einem klaren, hoch konzentrieren Gesichtsausdruck wandelt. „Du kannst dich also wirklich an nichts erinnern? Gut, dann haben wir ein Problem weniger. Gute Besserung.“, murmelt sie, bevor sie sich abrupt umdreht und das Zimmer verlässt. Ich blicke ihr nur mit weiten Augen hinterher. Was war das? So langsam verstärkt sich der Gedanke, dass ich wohl nicht nur einfach von der Brücke gefallen bin. Das suspekte Verhalten der Frau bekräftigt meine Vermutung. Ich bin jedoch optimistisch, die Wahrheit herauszufinden.

 

Dritte Begegnung: Müdigkeit füllt meinen ganzen Körper. Es ist sehr anstrengend mit Menschen zu reden, die anscheinend so viel über mich wissen, während man nichts über den anderen oder sich selbst weiß. Wieder schlafe ich innerhalb von Sekunden ein. Doch dieses Mal werde ich mitten in der Nacht von einem Rasseln geweckt. Ich höre, wie die Tür geöffnet wird und sehe einen großen, dicken und kränklich aussehenden Mann hineinlaufen. Ich frage mich, wie er überhaupt reingekommen ist. Besuchszeiten sind schon lange rum. Er betrachtet mich mit ernsten Gesicht und sagt: „Du musst mir mehr Geld überweisen. Ich habe alles im Casino verspielt.“ Sofort antworte ich: „Warum sollte ich Ihnen Geld überweisen? Und wer sind sie überhaupt?“ Plötzlich, ohne auch nur ein Wort zu sagen, packt er mich an meinen Schultern und wirft mich auf den Boden. Ich schreie vor Schmerzen auf, da mein Körper immer noch nicht geheilt ist. Jetzt, wo ich so nah an ihm bin, kann ich einen starken Alkoholgeruch ausmachen. Er fängt an mich zu treten und schreit laut: „Du undankbares Kind! Ich habe dich großgezogen und jetzt behandelst du mich wie einen Fremden?“ Als einer seiner Tritte mich am Kopf trifft, spürte ich ein starkes Brummen im Kopf. Plötzlich tauchen verschiedene Fragmente meines vergangenen Lebens auf und fügten sich allmählich zu einer Ordnung zusammen. Endlich ist meine Lebensgeschichte wieder in meinem Kopf. In einer Mischung aus Schmerz und Erschöpfung falle ich wieder in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit. Ich bekomme nur noch mit, wie eine Krankenschwester mit dem Sicherheitsdienst reinstürmt, um den noch immer auf mich einprügelnden Mann, festzunehmen.

 

Vierte Begegnung: Nachdem ich ca. vier Stunden bewusstlos im Bett lag, wache ich endlich auf. Überraschender Weise spüre ich keinen großen Schmerz, sondern nur ein leichtes Taubheitsgefühl. Noch nie war ich so dankbar gegenüber Schmerzmitteln gewesen. Aber Schmerzen sind momentan nicht meine größte Sorge. Jetzt, da ich endlich meine Erinnerungen zurückhabe, ergibt alles mehr Sinn. Ich muss zurück an den Tag denken, wo alles geschah. Ich wollte mich mit Oliver treffen, da ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und ich mit ihm über meinen Vater reden wollte. Er trank in letzter Zeit immer mehr. Wir haben etwas gegessen und sind dann spazieren gegangen. Wir liefen bis zu einer großen Brücke, wo wir stehen blieben, um die Aussicht zu genießen. „Es wird in letzter Zeit immer schlimmer. Er trinkt nur noch und wenn er mal aus dem Haus geht, ist es nur um sein Geld im Casino zu verspielen.“, beschwerte ich mich mit frustrierter aber auch teilweise wütender Stimme. Oliver antwortete: „Sein Geld? Wohl eher deins. Jackson, er arbeitet schon seit Jahren nicht mehr und zieht dir dein Geld aus der Tasche. Und, als ob, das noch nicht genug wäre, hat er vor einiger Zeit Mutter kontaktiert, um sie nach Geld zu fragen. Sie ist seitdem ganz aufgewühlt und paranoid. Sie denkt, er könnte ihr hinter jeder Ecke auflauern und ihr wieder Schaden zufügen.“ Ich rief schockiert: „Was?! Er hat sie kontaktiert?“ In dem Moment sah ich einen immer näher kommenden Schatten. Ich konnte mich noch rechtzeitig umdrehen, um zu sehen, wie Mutter mich mit einem Schrei von: „Lass meinem Sohn in Ruhe!“, von der Brücke schupste. Hinter ihr stand meine Schwester Emily, die alles mit großen Augen beobachtete. Danach stürzte ich ins Wasser und verlor mein Bewusstsein. Doch das ist jetzt vorbei und ich weiß, dass meine Mutter mit nicht absichtlich von der Brücke schupsen wollte. Ich höre plötzlich ein leises Klopfen und dann öffnet sich langsam die Tür. Hinein kommt genau die Person, über die ich gerade nachgedacht habe. „Jackson?“, spricht ihre unsichere Stimme. „Ja?“, antwortet meine ebenfalls unsichere Stimme. Keine weiteren Worte werden mehr gesprochen, während sie schnell zu meinem Bett läuft und mich in ihre Arme nimmt. Mittlerweile laufen bei uns beiden die Tränen über unsere Gesichter. Nachdem wir uns einige Minuten umarmt haben, fängt sie an, sich zu entschuldigen. „Oh Jackson! Ich wollte dir nie weh tun! Ich dachte, du wärst dein Vater und, dass du Oli irgendwie schaden wolltest und…es tut mir so leid!“, schluchzte sie mit tränenerfüllten Augen. „Es ist ok. Ich weiß, dass du mir niemals absichtlich Schaden zufügen wolltest.“, antwortete ich mit wackliger Stimme. Nach ca. zehn Minuten haben wir beide unsere Emotionen wieder im Griff, worauf mir eine Unklarheit in den Kopf schoss. „Warum haben mir Oliver und Emily nichts erzählt? Sie haben mich beide besucht, haben mich aber nicht aufgeklärt.“, fragte ich. Mutter antwortet: „Wir wussten nicht genau, wie wir es dir am besten erzählen sollten. Immerhin hattest du gar keine Erinnerung mehr an uns.“ „Das stimmt. Aber jetzt habe ich meine Erinnerung ja wieder und um Vater musst du dir jetzt auch keine Sorgen mehr machen. Der muss jetzt wegen schwerer Körperverletzung ins Gefängnis.“, fügte ich zum Schluss noch hinzu.

 

Den Rest des Abends verbringe ich alleine mit Mutter und rede über alles Mögliche mit ihr. Nachdem sie gegangen ist, liege ich im Bett und denke über alle vergangenen Geschehnisse nach. Eigentlich ist es sogar gut, dass mein Vater mich hier verprügelt hat. Natürlich ist es für meinen Körper nicht sehr vorteilhaft. Aber dafür ist er jetzt mehrere Jahre aus unserem Leben und sitzt im Gefängnis. Also könnte man zum Schluss sagen, dass diese zufällige Begegnung mit Mutter eine wahre Realisation des bekannten Sprichwortes `Glück im Unglück` ist.

 

(14 Jahre)