Es war ein sonniger Tag, als Cara abends aus dem Haus trat. Sie trug ihr schwarzes Haar mit einem neongrünen Haargummi zusammengebunden und war unterwegs zu ihrer täglichen Joggingrunde durch den Wald. Cara klingelte am Nachbarshaus. An der Tür erschien ein schlankes, blondes Mädchen, das in derselben Sportkleidung wie Cara steckte, die kinnkurzen Haare jedoch offen trug: Anne. Sie klatschte Cara ab. Gemeinsam joggten sie los in Richtung Wald. Die Mädchen schwitzten erbärmlich unter der heißen Augusthitze. Nach einer Viertelstunde waren sie so erschöpft, dass sich Anne am Rande einer Lichtung ins Gras fallen ließ. Also saßen Anne und Cara dort und schwiegen. Dass heute etwas anders war, hatte Cara schon beim Betreten des Waldes gemerkt, und auch jetzt spürte sie die Unruhe im Wald. Plötzlich trat absolute Stille ein. Etwas raschelte im Laub und erregte so die Aufmerksamkeit der Mädchen. Caras Herz setzte kurz aus, als sie ein Tier – Scharfe Zähne, wildes, zerzaustes Fell, zierlich grau und total abgemagert – sah, das sie nur aus dem Tierpark kannte. Der weise wirkende Wolf blickte genau in Annes tannengrüne Augen, lief aber nach kurzer Schrecksekunde leichtfüßig zurück ins Dickicht.

 

Cara löste sich zuerst aus der Starre, in die der zauberhafte Moment sie verfrachtet hatte: „Wir müssen zum Förster gehen.“ Anne war hin- und hergerissen. Natürlich wusste sie, dass Cara Recht hatte, doch sie war sich nicht sicher, wie die Dorfbewohner auf den Wolf reagieren würden. Besonders um die Jäger machte Anne sich Sorgen. Schließlich willigte sie jedoch ein.                                                                

 

***

 

Förster Jukol schaute gerade Fußball, als es klingelte. „Wer will um diese Uhrzeit noch was vom Förster?“, wunderte er sich. „Dabei ist das Spiel so spannend!“. Seufzend stand der 61-jährige auf und öffnete die Tür: „Wo brennt’s?“ „Nirgends. Aber wir haben einen Wolf gesehen.“ Wie elektrisiert sagte Cara diese Worte, von denen sie wusste, dass sie zwei Meinungen, und so zwei Gruppen, gegeneinander aufhetzen konnten. Und das taten sie auch….

 

***

 

Hier begann die Treibjagd. Dieter Jäger stieg aus seinem schmutzigen Jeep und ließ seine Hündin Sanne aus dem Kofferraum. Er traf seine Kollegen Otto und Niko am Hochsitz. Fröhlich pfeifend gingen die Männer los. Doch spätestens wenn sie gesehen hätten, wer sich hier herumtreibt, würde ihnen das Pfeifen vergangen sein. Um halb zwei kehrten die Jäger mürrisch zum Hochsitz zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie erst  sie erst drei Wildschweine und fünf Rehe geschossen. Niko raufte sich die Haare, er konnte sich die wenigen erlegten Tiere nicht erklären. Als die Jäger nach der Pause allerdings weiterzogen, zeigte sich der wahre „Störenfried“. Als Otto den Wolf entdeckte, griff er sofort nach seinem Gewehr. Bevor er es richtig eingestellt hatte, fasste Dieter ihn am Arm und hinderte ihn so am Schießen. Als Otto ihn wütend anblickte, entgegnete er: „Die nehmen dir sonst den Jagdschein ab. Und das geht hammerhaihart durch die Presse. Da kommen Gerüchte auf, das willst du nicht wissen. Am Ende heißt es, du hättest drei Promille gehabt!“. Seufzend ließ Otto das Gewehr sinken, der Wolf war sowieso schon wieder verschwunden.

 

***

 

„Einen Wolf? Hier bei uns?“ Herr Jukol staunte nicht schlecht, als er das erfuhr. „Ja“, antwortete Cara nur. „Das gibt ein ganz schönes Trara. Ich werde mich darum kümmern. Gut, dass ihr mir Bescheid gesagt  habt“, seufzte der Förster, schloss die Tür und ließ sich wieder auf sein weiches Ledersofa fallen. „Ob er uns überhaupt zugehört hat?“ Da war sich Anne nicht so sicher…

 

***

 

Eine Woche später kannten alle Dorfbewohner die Geschichte des Wolfes. Er wurde sogar in der Hessenschau erwähnt und (fast) jeder erzählte Lügen über ihn herum. Frau Meier habe er die Blumen zertrampelt (in echt war es das letzte Gewitter), den hölzernen Schulzaun habe er mit einem Schaf verwechselt und ein riesiges Loch hineingebissen (das war der Schuldirektor neulich beim Einparken) und Herrn Fischer will er gestern früh „Guten Morgen“ gesagt haben (weil Wölfe sprechen können…). Als am Mittwoch die Lokalzeitung über die verschwundenen Schafe der Frau des Bürgermeisters berichtete, wurde es Cara zu bunt. (die Bürgermeisterfrau züchtete Schnappschildkröten.) Wütend knurrte sie: „Wir müssen etwas unternehmen.“

 

***

 

Auch die Jäger beschlossen, endlich etwas gegen den Wolf  zu unternehmen.

 

Nur hatte keiner eine Idee, wie sie das ohne Gewehr anstellen sollten.

 

 

 

***

 

„Wir können ja den Förster fragen“, schlug Anne vor, die genauso genervt war wie Cara. Sie hasste es, nicht ernstgenommen zu werden und noch mehr, wenn die Wahrheit nicht ans Licht kam. „Super Idee“, stimmte Cara zu, „ich ruf ihn gleich an.“

 

***

 

Bei den Jägern herrschte schon mehr als zehn Minuten drückende Stille, keinem fiel etwas ein. „Ich hab‘ eine Idee“, durchbrach Dieter plötzlich das Schweigen. „Hmmh?“, kam es von den anderen. „Heute Abend legen wir den Wolf buchstäblich rein“, erklärte Dieter ihnen hämisch grinsend, „und zwar in eine Grube!“. „Könnt‘ glatt meine Idee sein, ich bin auf jeden Fall dabei!“ Niko war ebenfalls Feuer und Flamme: „Den Wolf verkaufen wir dann an den Tiergarten. Erstens bringt uns das Kohle und zweitens habe ich gute Kontakte zum Direktor des Parks!“

 

***

 

Der Förster saß in seinem bequemen Ohrensessel und trank eine Tasse heißen Gute-Laune-Tee. Er grübelte darüber nach, wie man den Leuten klarmachen konnte, wie ungefährlich der Wolf eigentlich war. „Man müsste einen Film drehen, das interessiert die Leute von heute wenigstens“, dachte er bei sich, „Aber dazu bräuchte ich Cara und Anne. Am besten sogar noch mehr Teenager. Ich werde sie anrufen müssen. Gleich heute Abend“.  Der Förster griff zum Telefon.

 

***

 

„Gut, dann treffen wir uns heute Abend um Acht am Waldrand. Ich bringe drei Spaten mit“, beschloss Dieter.

 

***

 

Caras Handy klingelte: „

 

Ja hallo, Cara Santris  hier?“ „Michael Jukol, der Förster. Ist Anne zufällig bei dir?“ „Ja wieso?“ „Super! Wollt ihr vielleicht auf ein Stück Erdbeertorte zu mir kommen? Es geht um den Wolf. Am besten bringt ihr ein paar Freundinnen mit. Ich erwarte euch in einer halben Stunde bei mir.“ „Logo! Ciao!“ „Bis gleich!“

 

***

 

„Hast du die Spaten?“ „Natürlich! Ich bin ja nicht blöd!“ „Gut.“ „Aufhören zu streiten, wir haben zu tun!“ „Geht klar, Chef!“  Schnaufend huben die Jäger ihre Falle aus.

 

***

 

„Na endlich, ich dachte, ihr kommt erst nächstes Jahr!“, scherzte der Förster. „Ich bin Michael, Cara und Anne kenne ich schon.“ „Das sind Dina, Arielle und Emilia“, stellte Anne ihre Freundinnen vor. „Kommt rein!“ Als die Mädchen am Tisch saßen, begann Herr Jukol: „Ihr seid nicht nur hier, um Kuchen zu essen. Ich brauche Eure Hilfe für ein Projekt. Ich möchte einen Film zum Thema WÖLFE drehen. Es geht darum, die Leute zu überzeugen, dass Wölfe nicht böse sind. Hat jemand eine Idee, wie wir das anstellen können?

 

Arielle war die Erste, die sich äußerte: „Wir holen unser altes Märchenbuch mit Rotkäppchen  - und dann erklären wir die Wirklichkeit.“ „Super Idee!“, ereiferte sich Dina, „wir demonstrieren den Leuten, was sie tun sollen, wenn sie einem Wolf begegnen wie Cara und Anne. So nehmen wir ihnen die Angst.“ „Wir müssen erklären, warum man Wölfe nicht töten darf.“ Die Ideen sprudelten nur so. Schnell hatte das Filmteam einen genauen Plan für den Kurzfilm entwickelt.

 

Förster Jukol hatte große Freude an den Planungen: „Gut, dann gehen wir jetzt in den Wald und zeigen den natürlichen Lebensraum des Wolfes!“

 

***

 

 

 

„Super jetzt sind wir fertig, lasst uns schnell heimgehen!“ Die Jäger schnappten ihre Geräte, stiegen in ihre Jeeps und brausten zurück ins Dorf.

 

***

 

 

 

Im dunklen Wald beim Filmteam überschlugen sich nun die Ereignisse: „Was ist das denn?“ „Wo bin ich jetzt reingetreten? Autsch, das tut furchtbar weh!“  „Dina? Alles ok?“ „Ich bin irgendwo reingefallen. Helft mir?“ „Wooaaaaah! Mist! Ich auch! Was ist das?“

 

„Ich weiß es“, murmelte Anne leise, „das sind Fallen.“ „Und ich weiß auch, wer sie gegraben hat“, fügte der Förster düster hinzu. „ Die Jäger! Jäger Dieter und seine Freunde!“ „Die schnappen wir uns!“ schrie Emilia kämpferisch.

 

„Nein“, entgegnete Cara und machte dem chaotischen Stimmengewirr ein Ende. „Wir erwähnen sie in unserem Film, das ärgert sie viel mehr!“

 

***

 

Einige Tage später in der Schule.

 

Alle Schüler und Lehrer waren in der Aula versammelt. Rektor Müller begrüßte sie:

 

„Wir zeigen Euch jetzt den tollen Film von Cara, Anne und ihren Freunden. Die Mädels haben einen sehr interessanten Aufklärungsfilm zum einem aktuellen Thema gedreht. Unterstützt wurden Sie von Förster Michael Jukol. Wir sind sehr gespannt, was sie uns zeigen wollen. Es geht um eine sehr interessante BEGEGNUNG, die in unserer Stadt den Gerüchtekessel anheizt.“

 

***

 

„…..und deshalb hat so eine Begegnung immer zwei Seiten: Eine Gute und eine Schlechte. Die zu unterscheiden, ist die Schwierigkeit“, endeten die Freundinnen im Film gemeinsam.

 

 

 

12 Jahre