Stärke trotz Schwäche

 

von

 

Marie Bertsch

 

 

 

Es war Dienstagabend. Anna lag wach in ihrem Bett. Eigentlich sollte sie schon schlafen, aber müde war Anna noch nicht. Sie hörte Autos über die Straße fahren und das Hupen nervöser Autofahrer. Durch die Ritzen ihres Rolladens sah sie den schwachen Schein der Straßenlaternen. Langsam kehrten Annas Gedanken zu dem Tag zurück, an dem sie ihre beste Freundin Lara kennen gelernt hatte: Damals saß ich allein und traurig auf der Bank im Park. Auf einmal hörte ich Schritte. Schon stand sie neben mir: Lara. Sie setzte sich ohne Scheu neben mich. Lara hatte mein leises Schluchzen gehört. Sie fragte mich, was ich auf dem Herzen hatte und ich wurde alle

meine Sorgen los. Schnell wurden wir Freunde. Wie gut erinnere ich mich noch, wie wir danach Hand in Hand durch den Park schlenderten“. Anna dachte weiter: „Ach, wie einfühlsam Lara doch ist und wieviel Trost sie einem spenden kann. Wie schade, dass ich sie erst in drei Tagen am Wochenende wiedersehen kann.“

 

 

Bald darauf war Anna in die Welt der Träume gesunken. Sie wachte erst wieder auf, als ihre Mutter sie weckte und daran erinnerte, in die Schule zu gehen. So ging der Tag wie jeder andere vorbei. Anna konnte am Abend wieder nicht einschlafen.Sogleich konzentrierten sich ihre Gedanken auf die gemeinsame Zeit mit ihrer besten Freundin: „Einmal sind wir beide zusammen durch die Stadt gelaufen. Ich sah zufällig meine Klassenkameradin Susanne und es kam zu einem kurzen Wortwechsel.

 

 

Anschließend erzählte ich Lara von Susanne. Ja, ich geriet richtig ins Schwärmen. Kein Wunder, denn Susanne sieht sehr gut aus, trägt tolle Klamotten, kann ganze 2,78 Meter weit springen und beim werfen ist sie auch die Beste. Dies alles beeindruckte Lara wenig. Sie bemerkte nur, dass Susanne eine garstige Stimme hatte und kalt im Herzen wirkte. Dies war mir bisher noch gar nicht bewusst geworden, aber ich musste Lara recht geben.“ Anna stellte voll Bewunderung fest: „Wie blitzschnell Lara doch den Charakter eines jeden Menschen erkennt, ohne wie andere auf das Äußerliche zu achten! Ach, wie vermisse ich Lara. Schade, dass es noch zwei Tage bis zum Wochenende sind und damit auch zum Wiedersehen mit ihr.“

 

Am nächsten Morgen wachte Anna rechtzeitig auf. Nach der Schule freute sie sich riesig, denn heute gab es ihr Lieblingsessen: Spaghetti mit Tomatensoße. Als der Tag zu Ende ging und Anna wie noch jedes Mal wach in ihrem Bett lag, erinnerte sie sich, wie lustig und lehrreich Spaghetti essen mit Lara gewesen war: „Wieder einmal hatte Lara eine grandiose Idee: mit verbundenen Augen zu essen. Ich war sofort Feuer und Flamme. Als meine Augen mit einem Schal verbunden waren, stellte ich erstmals fest, wie schwierig es war, die Nudeln auf die Gabel zu bringen und zu essen. Gleichzeitig nahm ich den Geschmack viel intensiver wahr. Ich glaube, dass war das beste Essen meines Lebens.“ Voller Achtung dachte Anna: „Ach, was für tolle Ideen Lara doch hat. Sie hat an allem Freude und hilft einem, das Leben von ganz neuen Seiten zu betrachten. Schade, dass es noch einen Tag dauert, bis ich sie endlich wiedersehen kann.“

 

So schlief Anna glücklich ein. Den folgenden Nachmittag verbrachte sie damit, eine Wolldecke für den Hund zu stricken, den Lara bald bekommen würde. Am Abend war Anna vor Freude kaum noch zu bändigen. Schon morgen würde Lara mit dem Zug eintreffen. Sie dachte: „Ach, wie gut erinnere ich mich noch an das letzte Wochenende. Wieder einmal musste ich mich von Lara verabschieden. Ich musste weinen. Selbst ihre Eltern verschütteten Tränen. Nur Lara weinte nicht. Sie blieb stark und tröstete uns mit den Worten: „Die Zeit heilt Wunden, und es wird sich alles schon wieder zum Guten wenden. Außerdem sehen wir uns am nächsten Wochenende doch schon wieder.“

 

“ Anna geriet ins Schwärmen: „Ach Lara, wie stark du bist und wie gut du einem Mut zusprechen kannst. Ich vermisse dich. Du schenkst mir immer so viel Kraft, Ruhe und Geborgenheit. Morgen sehen wir uns endlich wieder.“

 

Anna schlief ein und wachte am Morgen gut gelaunt auf. Kaum war sie angezogen und hatte gefrühstückt, klingelte es schon an der Tür. Lara stand mit ihrer Mutter und ihrem Vater davor. Die beiden Kinder fielen sich in die Arme und spielten all die Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, prächtig miteinander. Abends lag Anna wieder allein im Bett und dachte mit warmem Herzen und voller Verwunderung: „Ach, wie nett, einfühlsam, offen und ideenreich Lara ist. Wie toll sie zuhören und einem Mut zusprechen kann. Wie klar sie den Charakter eines Menschen erkennt, wie unendlich stark sie ist, ihre Kraft weiterschenkt und tapfer in die Zukunft blickt. Leider kann ich sie nur am Wochenende sehen, denn Lara muss eine andere Schule besuchen als ich. Leider, aber es geht nicht anders, denn Lara ist seit ihrem schrecklichen Unfall blind.“

 

 

(10 Jahre)