Amira

 

von

 

Feylin Karamann

 

Das Erste, was ich höre, ist ein stetiges Rauschen und das Stöhnen von Menschen. Ich sehe nichts, es ist stockdunkel und stickig, außerdem sehr warm. Ich versuche aufzustehen und bemerke, dass um meinen Fuß eine kurze Kette liegt, mit der ich mich nur hinsetzen kann. Ich hoffe, dass ich träume, denn ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen sein soll, aber alles wirkt so echt, mein Kopf tut weh und ich habe schrecklichen Durst. Als etwas meine Hand streift, schreie ich auf. Es ist ein lauter Schrei, und plötzlich herrscht Stille.

 

Kein Stöhnen, kein Jammern, nicht ein einziges Geräusch. Dann erscheint, begleitet von einem langen Knarren, hoch oben eine rechteckige Öffnung, vor der sich eine Gestalt abzeichnet. Es ist ein Mann mit einer fast weißen Hautfarbe. So etwas träume ich doch nicht! Ich kneife mich, und der Schmerz ist echt. Nun bin ich mir sicher: Das ist kein Traum. Es ist echt! Der Mann brüllt etwas Unverständliches zu mir herunter, aber freundlich klingt es nicht. Mir entweicht ein ängstliches Wimmern und der Mann dreht sein Gesicht in meine Richtung. Er kann mich nicht sehen, das weiß ich; trotzdem ducke ich mich unwillkürlich. Jemand berührt meinen Arm und ich schrecke zurück, aber als ich eine Stimme höre, beruhige ich mich. Es ist meine beste Freundin Naomi. Sie erzählt mir, dass wir zusammen mit vielen anderen in einem Raum auf einem riesigen Schiff sind, dabei auch andere Mädchen unseres Stamms.

 

Die hellhäutigen Männer hätten uns verschleppt. Meine Erinnerung ist wieder da. Sie kamen in unser Dorf, Fremde merkwürdigen Verhaltens und Aussehens. Unhöflich waren sie gegenüber den Ältesten und dem Anführer, redeten auf uns deutend in einer fremden Sprache mit ihnen. Als wir Wasser holten, waren sie plötzlich da. Unsere Väter wollten uns helfen, doch ohne sie zu berühren, verletzten die Fremden sie mit merkwürdigen Stöcken. Wir wurden gefesselt und mussten dann aneinandergekettet laufen. Ich stolperte und fiel auf einen Stein, was danach passierte, bevor ich auf dem Schiff aufgewacht bin, weiß ich nicht. "Ich habe Angst, Naomi. Was haben die mit uns vor?" " Ich weiß es nicht, Amira." Ein Ältester, der schon länger hier ist und meine Frage gehört hat, erzählt, dass die Männer immer wieder weggehen und mit neuen Leuten zurückkommen. Er vermutet, dass wir für sie arbeiten sollen. Das trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühle.

 

Wir sind wochenlang im Laderaum, dürfen nicht raus. Bisher konnte ich mich immer frei bewegen, es ist eine neue, schreckliche Erfahrung. Es gibt zu wenig und zu selten zu essen. Viele sterben, doch Naomi und ich halten durch. Manchmal kommen die Matrosen und bringen Mädchen nach oben. Sie schließen die Luke, doch wir hören ihre Schreie. Einmal frage ich meinen Nachbarn, was mit den Frauen passiert, und dieser flüsterte hasserfüllt: "Die Männer zwingen sie, mit ihnen zu schlafen, diese Dämonen!" Diese Worte treffen mich, und seitdem machen Naomi und ich uns ganz klein, wenn die Luke aufgeht. Ich schäme mich wegen meiner Erleichterung, dass sie andere holen und nicht mich, aber Naomi meint, ihr gehe es genauso.

 

Irgendwann werden wir endlich rausgelassen. Wir können kaum laufen; weniger als die Hälfte hat überlebt und alle sind abgemagert und verdreckt, aber wenigstens können wir raus und sind nicht mehr eingesperrt. An Land (es ist sehr grün und kälter als bei uns) ist alles anders: Wir können uns waschen, bekommen zu essen und Kleidung gegen die Kälte. Nach ein paar Tagen werden wir zu einem großen Platz mit vielen Ständen gebracht, ein Markt, wie ich später erfahre. Mir ist nicht klar, was dort angeboten wird, doch dann sehe ich die angeketteten Menschen, die von Hellhäutigen umringt sind, und erkenne: Wir sind die Ware! Wie Dinge werden wir dargestellt und angeboten. Am Ende des Tages sind fast alle verkauft worden. Naomi und ich wurden getrennt. Eine Frau kauft mich als Arbeiterin in der Küche, ein dicker Mann Naomi. Mir werden die anstrengenden und unangenehmen Arbeiten zugeteilt, wie Töpfe schrubben oder die gesamte Küche säubern, und die anderen Bediensteten machen mir das Leben schwer. Eine Älteste eines großen Stamms, die schon länger hier als Amme arbeitet, bringt mir die hiesige Sprache und das richtige Benehmen bei: Demut gegenüber der Herrin und immer fleißig arbeiten, selbst wenn man nicht mehr kann. Als erstes lerne ich den Namen dieses Landes: Vereinigte Staaten von Amerika, als nächstes das Jahr: 1844. Ich lerne schnell.

 

Nach ein paar Monaten weiß ich genug, um meine Herrin anzusprechen, doch sie verbietet mir, das jemals wieder zu tun, bevor sie nicht das Wort an mich gerichtet hat, oder sie werde mir die Zunge rausschneiden lassen. Eingeschüchtert halte ich mich danach von ihr fern. Die Amme erklärt mir, dass das eine der Strafen für falsches Benehmen ist, die anderen will sie mir nicht nennen. Einmal sehe ich, wie ein Mädchen stiehlt. Als wieder etwas verschwindet, spreche ich sie darauf an. Sie droht mir, dass ich es bereuen würde, sollte ich sie auffliegen lassen. Ich gehe trotzdem zur Herrin, warte diesmal, bis sie mich anspricht. Nachdem ich sie informiert habe, eilt sie mir mit fliegenden Röcken nach. Das Mädchen streitet alles ab. Sie behauptet, ich hätte gestohlen und wolle ihr das nun unterschieben. Bei ihr wird nichts gefunden, die Herrin geht nun zusammen mit zwei Arbeitern zu meinem Schlafplatz.

 

Mir ist mulmig zumute, obwohl ich weiß, dass das Mädchen gestohlen hat und nicht ich, es wirkt zu selbstsicher. Unter meinem Laken finden sie Silberbesteck. Die Herrin schaut mich kalt an. ''Bringt diese Diebin und Lügnerin zum Platz nach draußen", weist sie die Arbeiter an. Ich werde in den Garten geschleppt, auf einen Sandplatz ganz hinten. Dort steht in der Mitte ein Pfahl, an den ich mit den Händen gefesselt werde, ich kann mich nicht wehren. Die Herrin kommt und befiehlt:" Macht ihr Kleid am Rücken auf und holt die Peitsche. Oh... und holt mir Barou." Schon als die Herrin mich nach draußen bringen ließ, hatte ich Angst, aber bei diesen Worten werde ich erst recht panisch, ich winde mich, versuche, die Hände zu befreien, beschwöre meine Herrin, mir zu glauben, das Mädchen hat mich ausgetrickst... Doch sie verbietet mir nur den Mund. Barou ist dunkelhäutig.

 

Er soll das Auspeitschen übernehmen. Als er mich ansieht, zögert er, doch dann lässt er die Peitsche durch die Luft sausen. Klatschend trifft sie auf meine Haut, ich versuche, keinen Laut von mir zu geben, doch der Schmerz ist entsetzlich, und ich schreie und schreie, bis alles schwarz wird. Als ich aufwache, schleifen mich zwei fremde Männer an den Armen durch einen dunklen Gang mit Gittertüren an den Seiten. Ich stöhne, und der eine wendet sich mir zu. „Willkommen im Gefängnis, Diebin, dem perfekten Ort für Leute wie dich, die hier wegen ihren Taten gefangen gehalten werden", sagt er höhnisch. Gefangen, ich kenne die schreckliche Bedeutung dieses Wortes. „Ich bin keine Diebin, ich habe nichts getan, sie kann mich doch nicht wegsperren wie ein Kind ein altes Spielzeug!", schreie ich. „Lüg uns nicht an, du hast deine Herrin bestohlen.“

 

Gefangen, ich kenne die schreckliche Bedeutung dieses Wortes. "Ich habe nichts getan, sie kann mich doch nicht wegsperren wie ein Kind ein altes Spielzeug!", schreie ich. Der andere, bärtige Mann erwidert: "Du bist ihr Besitz, ihre Sache, sie kann alles mit dir machen, was sie will." „Aber das ist doch nicht gerecht, in was für einer Welt leben wir eigentlich..." „Schnauze!", ruft der jüngere. Ich werde in einen Raum mit Gittertür geworfen. Mein Rücken schmerzt höllisch, und als ich zusehe, wie sich die beiden Männer lachend entfernen, ohne sich noch einmal umzudrehen, erkenne ich, dass ich hier niemals wieder rauskommen werde.

 

 

14 Jahre